Zeitschrift für Palliativmedizin 2010; 11(6): 257-258
DOI: 10.1055/s-0030-1270176
Editorial

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Bewegte Zeiten - Palliativmedizin im Spannungsfeld zwischen Bewahrendem und Fortschritt

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Publication Date:
29 November 2010 (online)

 

Prof. Friedemann Nauck, Göttingen

Bei tief greifenden Veränderungen in unserem Gesundheitssystem, die zunehmend dazu führen, dass grundlegende Fragen bezüglich des Solidaritätsprinzips aufgeworfen werden, scheint sich die Palliativmedizin ambulant und stationär im Bereich der spezialisierten Versorgung (SAPV, SAPPV, Palliativstationen, Hospize) - wenn auch nicht mit der gewünschten Dynamik - weiterzuentwickeln. Das zeigte nicht zuletzt das große Interesse (mehr als 2.200 Teilnehmer) für unseren alle zwei Jahre stattfindenden Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, der so erfolgreich mit Unterstützung Vieler im September in Dresden abgehalten wurde. Mein herzlicher Dank geht an die KongresspräsidentInnen, die Organisatoren und alle Helfer.

Bewegte Zeiten auch in der und für die Palliativmedizin: Die erfolgreiche Präsentation der Charta für schwerstkranke und sterbende Menschen in Deutschland in Berlin am 8. September 2010 gemeinsam mit der Bundesärztekammer und dem Deutschen Hospiz- und Palliativverband, mit denen das Chartaprojekt gemeinsam umgesetzt werden konnte. Diese Zeiten sind begleitet von der Interpretation einer Studie zum Verhalten von deutschen Ärzten im Bereich Palliativmedizin1, in der u .a. von 10 der ausgewerteten 780 Ärzte (1,3 %) beabsichtigt lebensverkürzende Maßnahmen angegeben werden. Leider sind die in den Medien diesbezüglich veröffentlichten Berichte in den Ergebnissen wenig differenziert und dadurch verzerrt dargestellt.

Medien, Journalisten und Befürworter des ärztlich assistierten Suizids und der aktiven Sterbehilfe meldeten sich verstärkt zu Wort. Nicht nur in unserer Stellungnahme, sondern auch in einem Leserbrief an die DIE ZEIT, der leider keine Berücksichtigung gefunden hat, haben wir als DGP reagiert. Wir haben ausgeführt, dass das praktische Verhalten einzelner Ärzte nicht als Legitimation für eine Revision der ethischen Beurteilung von Tötung auf Verlangen, Tötung ohne Einwilligung des Patienten oder assistiertem Suizid herangezogen werden kann und nicht nur aus Sicht der DGP keine dieser Maßnahmen Teil ärztlichen Handelns ist.

Nahezu zeitgleich lässt die im August 2010 publizierte Studie im New England Journal of Medicine von Temel et al. aufhorchen. Patienten mit weit fortgeschrittenem Bronchialkarzinom erhielten entweder eine Standardtherapie oder wurden (randomisiert) zusätzlich von einem Palliative-Care-Team betreut. Die Ergebnisse zeigen nicht nur eine bessere Lebensqualität und weniger aggressive Therapie in der Palliative-Care-Gruppe, sondern auch ein signifikant höheres Überleben von 8 auf 11 Monate, wenn Palliativmedizin früh begonnen wurde und konsequent die Patienten begleitete2. Palliativmedizin kann also offensichtlich Leben verlängern, obwohl das palliativmedizinische Konzept in der letzten Lebensphase eine bestmögliche Lebensqualität in den Fokus stellt und dafür eine Lebensverkürzung durch Nichtanwendung einzelner medizinischer Maßnahmen in Kauf nimmt.

Somit bewegt sich das Spektrum der Aussagen in den Studien von "Palliativmedizin verkürzt das Leben" bis hin zu "Palliativmedizin verlängert das Leben".

In diesen bewegten Zeiten muss sich die DGP als wissenschaftliche Fachgesellschaft sichtbar positionieren. Der in Dresden neu gewählte Vorstand wird in den nächsten zwei Jahren deutlich machen, wie dringend die Etablierung weiterer Forschung in der Palliativmedizin ist, und zwar in allen Bereichen der medizinisch-pflegerischen Fragestellungen ebenso wie in psychosozialen und spirituellen Fragen. Forschungsergebnisse müssen dann dringend in Therapieempfehlungen und Leitlinien münden, um auch der Palliativmedizin eine möglichst hohe Effizienz bei der klinischen Versorgung zu verschaffen. Grundlagen hierfür sind mit der S3-Leitlinien-Arbeitsgruppe und dem Start für die Therapieleitlinien Palliativmedizin der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft gelegt.

Bewegung in der Palliativmedizin bedeutet aber auch, dass sich der Vorstand gemeinsam mit den verschiedenen Arbeitsgruppen, Arbeitskreisen und Kommissionen der DGP dafür einsetzen wird, dass der Fokus nicht ausschließlich auf der spezialisierten Versorgung von schwerkranken und sterbenden Patienten liegt, sondern dringend Strukturen und Finanzierung für die allgemeine Palliativversorgung geschaffen werden müssen. Erste Kontakte und Gespräche mit Vertretern der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Politik haben stattgefunden. Es kommt nun darauf an, gemeinsam dafür Sorge zu tragen, dass die allgemeine Palliativversorgung und die spezialisierte Palliativversorgung so umgesetzt werden, dass sie sich konzeptionell ergänzen, damit die Menschen, die der Palliativmedizin bedürfen, weder eine Unter- noch eine Überversorgung erhalten. Hierbei sollten wir immer daran denken, dass Hospizarbeit und Palliativmedizin multi-professionell und nicht bi-professionell (Arzt und Pflege) gelebt werden muss, wenn wir alle Dimensionen - physisch, psychisch, sozial und spirituell - bei unseren schwerkranken und sterbenden Patienten berücksichtigen wollen. Dazu soll auch unsere Satzungsänderung beitragen, nach der nun Vertreter aller Berufsgruppen, die in der Begleitung Schwerkranker benötigt werden, den Status des ordentlichen Mitglieds der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin erhalten können. Neben den hauptamtlich Tätigen müssen auch die Ehrenamtlichen aktiv und frühzeitig in die Betreuung und Planung der Versorgung eingebunden werden.

In diesen bewegten Zeiten hat mich meine Wahl zum neuen Präsidenten nachhaltig motiviert. Ich danke für das mir entgegengebrachte Vertrauen und hoffe sehr, dass ich mit Ihnen gemeinsam dazu beitragen kann, dass sich unsere Fachgesellschaft weiterentwickelt, sich noch stärker als wissenschaftliche Fachgesellschaft etabliert und die weitere Entwicklung der Palliativmedizin und Hospizarbeit auch zukünftig konstruktiv und engagiert mitgestalten zu können. Ich freue mich darauf, mit Ihnen gemeinsam auch in Zukunft Palliativmedizin zu gestalten und zu bewegen. Bringen Sie sich aktiv mit ein!

Ihr

Friedemann Nauck

Literatur

  • 01 Schildmann J , Hoetzel J , Müller-Busch C , Vollmann J . End-of-life practices in palliative care: a survey among physician members of the German Society for Palliative Medicine.  In: Palliative Medicine, Online First, 6.9.2010
  • 02 Temel J S, Greer J A, Muzikansky A , Gallagher E R, Admane S , Jackson V A, Dahlin C M, Blinderman C D, Jacobsen J , Pirl W F, Billings J A, Lynch T J. Early palliative care for patients with metastatic non-small-cell lung cancer.  N Engl J Med.. 2010;  Aug 19; 363 (8) 733-42
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