PiD - Psychotherapie im Dialog 2012; 13(4): 1-2
DOI: 10.1055/s-0032-1321415
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Neues und Bewährtes zu einem alten Thema

Michael  Broda, Bettina  Wilms, Hans  Lieb
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Publication Date:
04 December 2012 (online)

Seit Erscheinen unseres ersten Heftes zu „Sucht“ sind inzwischen mehr als acht Jahre vergangen – für uns Grund genug, sich mit dem Thema neu zu beschäftigen und Entwicklungen in Theorie und Behandlung darzustellen. Auch die Änderung der Psychotherapierichtlinien im letzten Jahr beeinflusst die Versorgungslandschaft und bringt neue Herausforderungen für die Praxis.

Wir haben uns in diesem Heft auf die stoffgebundenen Süchte beschränkt. Dadurch wollen wir auch dem inflationären Gebrauch des Begriffes entgegenwirken und die körperliche Abhängigkeit von Substanzen als krankheitswertige Störung abgrenzen von umgangssprachlich unscharfen Begriffen wie „arbeitssüchtig“, „liebessüchtig“ oder „sexsüchtig“. Auch Spielsucht und Internetsucht verdienen eine gesonderte gründlichere Darstellung und sollen in diesem Heft nicht noch „mit“ abgehandelt werden.

Natürlich stellt sich die Frage, ob wir im Aufbau der Beiträge den Grundorientierungen Rechnung tragen sollen oder ob es nicht andere Gliederungsgesichtspunkte gibt, unter denen ein solches Heft sinnvoller eingeteilt werden könnte. Klaus Bilitza, einer der Gastherausgeber unseres ersten Suchthefts und geschätzter Autor auch in diesem Heft, hat in einem persönlichen Brief an uns Herausgeber Anregungen in diese Richtung gegeben: Flatrate, Alter, Gender oder Gewalt sind Stichworte, die in seiner Erfahrung die Diskussion momentan stärker prägen als die verschiedenen Ansätze einzelner Orientierungen. Dass wir uns dennoch für eine eher klassisch anmutende Gliederung entschieden haben, liegt auch an der Überzeugung, dass sich der Versorgungsbereich „Psychotherapie“ immer wieder mit den Grundsätzen der Suchtbehandlung befassen muss, da Dilemmata und blinde Flecken im Umgang mit Sucht normal sind. Wenn wir uns als Gutachter im Richtlinienverfahren die Psychotherapieberichte und Falldarstellungen ansehen, fällt auf, dass diesem Thema kaum Bedeutung geschenkt wird: Angaben zu Alkoholkonsum sind selten, Nikotin und Medikamente spielen in den Berichten so gut wie gar keine Rolle.

Vermutlich unterliegen wir in der Psychotherapie dem gleichen Phänomen, das auch gesellschaftlich zu beobachten ist: Substanzmissbrauch und Sucht werden gerne verharmlost, verschwiegen oder bagatellisiert, oder auf der anderen Seite stigmatisiert und ausgegrenzt. Da viele PatientInnen dies tun, ist ein Thematisieren auch immer eine Belastungsprobe für die therapeutische Beziehung: Glaubt mir etwa mein Therapeut nicht, dass ich damit kein Problem habe? Mit diesem Gespür sprechen vermutlich viele TherapeutInnen dieses Thema entweder gar nicht an oder begnügen sich mit allgemein-ausweichenden Angaben – manche haben vielleicht die Sorge, beim Auftauchen eines solchen Themas auch gleich eine Suchteinrichtung vorschlagen zu müssen.

Wir wissen aber auch, wie schwierig die Arbeit mit SuchtpatientInnen sein kann: Komplizierter Vertrauensaufbau, Rückfälle oder Selbstüberschätzungstendenzen erschweren häufig die therapeutische Arbeit in Verbindung mit gesellschaftlicher Stigmatisierung von Sucht. Auch das Erscheinungsbild von Entzugseinrichtungen, häufig in der Psychiatrie, lässt uns TherapeutInnen vielleicht zu häufig zögern, diese oft sinnvollen Behandlungsangebote vorzuschlagen.

In diesem Heft wollen wir Ihnen, liebe LeserInnen, ein Angebot verschiedenster Informationen und Anregungen bieten und haben dabei nicht den Vollständigkeitsgedanken, sondern das Impulspotenzial der einzelnen Beiträge im Blick.

Den Anfang macht Anil Batra, der einen fundierten Überblick über den Stand der Suchttherapie gibt und somit den Stand der Forschung und Versorgung im Jahr 2012 darstellt.

Johannes Lindenmeyer ist vielen von Ihnen als häufig eingeladener Experte in den Medien bekannt – er skizziert die fünf verhaltenstherapeutischen Dimensionen der Suchtbehandlung und stellt weiter hinten im Heft noch sein Programm für PatientInnen zur therapiebegleitenden Selbstmodifikation vor.

Rudolf Klein gibt einen Einblick in die systemischen Überlegungen der Suchttherapie und richtet seinen Blick unter Berücksichtigung der Selbstorganisationsprozesse und der Lebensgeschichte auf wichtige Parameter des therapeutischen Prozesses.

Ebenfalls biografische Aspekte, aber auch Fragen der zwischenmenschlichen Beziehungen sowie der therapeutischen Beziehung werden von Klaus Bilitza aufgegriffen. Er behandelt in seinem Beitrag auch die Rolle von Emotionen, von Abwehrprozessen und von Prozessen der Innenwelten von PatientInnen.

Heliane Schnelle und Jeanne Rademacher berichten über die Implementierung systemischer Ansätze in die ambulante und stationäre Versorgung und schlagen eine bessere Nutzung gruppentherapeutischer Angebote am Beispiel drogenabhängiger Jugendlicher vor.

Dagmar Kraft und Volker Köllner, Mitherausgeber der PiD, thematisieren die unbeachtete Sucht: die Nikotinabhängigkeit. Wir stellen diesen Beitrag auch deswegen an den Anfang der einzelnen Suchtbeiträge, da es sich dabei um die verbreitetste und in den medizinischen Folgen schädlichste Sucht handelt. Sie sehen die Psychotherapie in der Pflicht, zu motivieren und Entwöhnung zu begleiten.

Die im gesellschaftlichen Sprachgebrauch oft bagatellisierte Sucht von Alkohol wird von Monika Vogelgesang beschrieben. Aus ihrer Erfahrung einer Klinikleiterin mit einer großen Suchtabteilung geht sie auf die psychosozialen, körperlichen und ökomischen Folgen der Abhängigkeit ein und stellt Hintergrundwissen zu Diagnose und Therapie zur Verfügung.

Heinz Vollmer und Julia Domma-Reichert beleuchten auf der Basis ihrer sowohl wissenschaftlichen als auch praktischen Erfahrungen die ausgegrenzte Sucht Drogenabhängigkeit; sie schildern die Fortschritte in der Therapie Drogenabhängiger und die zwischenzeitlich möglichen Erfolge.

Gerd Glaeske gilt als ein kritischer Medikamentenforscher im deutschsprachigen Raum. Er informiert uns über die verheimlichte Sucht der Medikamentenabhängigkeit. Er beschreibt die Mechanismen in unserem Gesundheitsversorgungssystem, die die Entstehung solcher Sucht begünstigen und den oftmals mangelnden Kenntnisstand hinsichtlich des Suchtpotenzials bei den niedergelassenen KollegInnen. Bettina Wilms, Mitherausgeberin der PiD und Heftherausgeberin, kommentiert unter dem Stichwort „harm reduction“ mögliche abweichende Therapieentscheidungen.

Sonja Bröning, Diana Moesgen, Michael Klein und Rainer Thomasius sind MitarbeiterInnen am Bundesmodellprojekt „Trampolin“, das sich um Kinder aus Suchtfamilien kümmert und ein ressourcenorientiertes Gruppenangebot unter Einbeziehung der Eltern entwickelt hat.

Ebenfalls um die Einbeziehung der Familie, diesmal aber für substanzabhängige Jugendliche, geht es Andreas Gartner in seinem Beitrag, der die Multidimensionale Familientherapie bei diesem Klientel beschreibt und die Frage stellt, wieso solche Ansätze in der Praxis so selten angewandt werden.

Astrid Wilhelm berichtet über ein niederschwelliges telefonisches Therapieangebot für Nikotinabhängige, das vom Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg mit Erfolg seit Jahren kostenlos angeboten wird. Dabei werden sowohl Angebote für Menschen, die mit dem Rauchen aufhören wollen, speziell auch für TumorpatientInnen sowie für professionelle Helfer im Gesundheitswesen vorgestellt.

Johannes Lindenmeyer präsentiert uns in seinem zweiten Beitrag sein Programm zur therapiemotivierenden Unterstützung für Alkoholabhängige. Da dieses ein vielfach erprobtes und bewährtes Programm ist, waren wir der Auffassung, dass ein solches Programm in einem Heft über Sucht nicht fehlen darf.

Regina Adams gibt uns einen Überblick über das System der Suchtberatungsstellen. Gerade in der ambulanten Psychotherapie scheint uns das Wissen über Aufgabenbereich, Vorgehen und Erfolge der ambulanten Rehabilitation Suchtkranker oft noch sehr schwach ausgeprägt.

Mit dem Ziel der Suchttherapie bei AlkoholikerInnen setzt sich Ralf Schneider auseinander. Er ist einer der Urväter der verhaltenstherapeutischen Suchtbehandlung, auf dessen Konzept viele andere aufbauten – er äußert sich hier zu einer fundamentalen Frage der Suchttherapie und diskutiert in seinem Beitrag die vielen Fallen und Probleme, die sich mit unreflektierten Zielsetzungen wie völliger Abstinenz oder kontrolliertem Trinken ergeben können.

Dass Sucht konzeptionell nur sehr unvollständig unter einer individualpsychologischen Perspektive gefasst werden kann, erläutert uns Ruthard Stachowske und zeigt uns die Mehrgenerationenperspektive und die Rolle von Traumatisierungen in der Suchtgenese auf.

Um die Frage der Verzahnung stationärer Entgiftung und ambulanter Angebote geht es im Beitrag von Juliane Dohren und Rüdiger Münzer. Sie berichten über ein tagesklinisches Projekt an einem psychiatrischen Landeskrankenhaus, das die Lücke zwischen stationärer Entgiftung und ambulanter Therapie schließen helfen soll.

LeserInnen der PiD wissen, dass wir im Interviewteil An- und Einsichten neben der wissenschaftlich-therapeutischen Perspektive vermitteln wollen. Mit Reiner Weißgerber sprechen wir mit einem Braumeister und Gastronomen über seine Beobachtungen zu Veränderungen des Konsums und der Zusammensetzung der Kundschaft sowie den Trends in der Getränkeindustrie.

Wie immer runden DialogLinks, erstellt von Christiane Eichenberg und Zuzana Kovacovsky, sowie DialogBooks, recherchiert von Chiara Amadei, den Thementeil des Heftes ab.

Wir wünschen Ihnen, dass Sie aus diesem Heft viele Anregungen und Impulse aufnehmen können, und ein gutes Jahr 2013 mit einer dann gründlich veränderten Zeitschrift PiD in bewährter Qualität!

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