Drug Res (Stuttg) 2016; 66(S 01): S22-S23
DOI: 10.1055/s-0042-114461
Symposium der Paul-Martini-Stiftung
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Fortschritte in der Neuroimmunologie – Multiple Sklerose

F. Zipp
Direktorin der Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universitätsmedizin Mainz
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Prof. Dr. med. Frauke Zipp
Direktorin der Klinik und Poliklinik für Neurologie
Universitätsmedizin Mainz
Langenbeckstraße 1
55101 Mainz

Publication History

Publication Date:
02 November 2016 (online)

 

    Entwicklungen im Verständnis der Pathologie: In den westlichen Ländern ist die Multiple Sklerose (MS) eine der häufigsten Ursachen für eine neurologische Funktionsstörung bzw. anhaltende Behinderung des jungen Erwachsenen. Die sozioökonomische Belastung durch MS ist enorm aufgrund der hohen Kosten für das Gesundheitssystem, und die Erkrankung beeinflusst Entscheidungen, die junge Patienten für den Rest ihres Lebens treffen müssen.

    MS gilt als Prototyp einer entzündlich-entmarkenden Erkrankung des zentralen Nervensystems. In den vergangenen Jahren wurde jedoch deutlich, dass auch neurodegenerative Mechanismen eine entscheidende Rolle in der Pathogenese spielen. Wie bei allen komplex-genetischen Erkrankungen bieten die in den letzten Jahren identifizierten Genorte trotz individuell kleiner Effektstärken einen einzigartigen Einblick in die genetische Architektur der Erkrankung und mögliche zugrunde liegende Pathomechanismen. So ist die überwiegende Anzahl der MS-Risikogene an entzündlichen Prozessen beteiligt, was unterstreicht, dass das Immunsystem eine wesentliche ursächliche Rolle in der Pathologie spielt.

    Auch ist die Multiple Sklerose ein Beispiel in der Neurologie, wo sich durch intensive klinische Forschung ein Bereich vom therapeutischen Nihilismus zu einer Vielfalt an Behandlungsmöglichkeiten entwickelt hat.

    Ebenso mussten Patienten noch vor 20 Jahren erst zu vielen Ärzten gehen, bevor eine klare Diagnose gestellt werden konnte. Heutzutage können durch moderne bildgebende Verfahren frühzeitig signifikante Anzeichen erkannt werden, was für eine frühzeitige Therapieoption notwendig ist. Durch den Einsatz der Kernspintomografie lässt sich schon am Anfang der Erkrankung eine Schädigung der Grauen Substanz (den Nervenzellen) nachweisen. Darüber hinaus ist deutlich geworden, dass die Behinderung der MS-Patienten wesentlich stärker mit den Anzeichen für einen Schaden im neuronalen Kompartiment (in der Grauen Substanz) korreliert als mit den Läsionen in der Weißen Substanz, also der Entzündung und Entmarkung. Die Mechanismen der neuronalen Schädigung sind bislang allerdings nicht genau bekannt. Als ursächlich diskutiert wird eine Aktivierung der Lymphozyten und der Antigen-präsentierenden Zellen des zentralen Nervensystems, welche zu einer Ausschüttung von Entzündungsmediatoren und zytotoxischen Molekülen führt. Außerdem wurden Mechanismen neuronaler Schädigung durch direkten Zellkontakt mit T-Zellen beschrieben.

    Therapien: Die heutigen Therapien beeinflussen den Krankheitsverlauf hauptsächlich durch eine Immunmodulation bzw. Immunsuppression. Mittlerweile gewinnen allerdings die Entwicklungen zu neuroprotektiven Therapieansätzen sowie die Aufklärung der zugrunde liegenden Mechanismen der Neurodegeneration an Bedeutung.

    Viele der zugelassenen bzw. kurz vor der Zulassung befindlichen Wirkstoffe ermöglichen im Wesentlichen antientzündliche Therapien. Experimentelle, klinische und Bildgebungsdaten deuten jedoch darauf hin, dass auch die bereits zugelassenen Substanzen durch die Blockade der schädigenden Entzündung geringe neuroprotektive Eigenschaften haben könnten.

    Grundsätzlich kann zwischen Wirkstoffen der sogenannten „Basistherapie“ für moderate Krankheitsverläufe (β-Interferone, Glatirameracetat, Teriflunomid, Dimethylfumarat) und der „Eskalationstherapie“ für hochaktive Krankheitsverläufe der schubförmigen MS (Fingolimod, Natalizumab, Alemtuzumab) unterschieden werden. Neu verfügbar ist der humanisierte monoklonale Antikörper Daclizumab gegen CD25 (α-Kette des IL-2 Rezeptors), welcher eine Modulation von natürlichen Killerzellen und Antigen-präsentierenden Zellen bewirkt; außerdem befindet sich kurz vor der Markteinführung der Antikörper Ocrelizumab gegen CD20, der zu einer B-Zell-Depletion führt und die Weiterentwicklung von Rituximab darstellt. Die B-Zell-Depletion scheint die Schädigung der Grauen Substanz im Gehirn auf besondere Weise zu beeinflussen und zeigte sogar eine Reduktion des Fortschreitens der Behinderung bei Patienten mit der selteneren Form der primär-progredienten MS, für deren Krankheitsverlauf wir bislang keine Therapie hatten.

    Durch die Zulassung neuer Medikamente in den letzten Jahren ist die Zahl der verfügbaren Immuntherapien mit unterschiedlichen Angriffsorten deutlich gestiegen. Therapieumstellungen stellen damit eine zunehmende Herausforderung dar. Die Behandlungsoptionen weisen teilweise komplexe Nebenwirkungsprofile auf und erfordern ein langfristiges und umfangreiches Monitoring.

    Herausforderungen: Eine wirksame Immuntherapie sollte zur Verhinderung von Krankheits- und Behinderungsprogression möglichst frühzeitig begonnen werden. Bei hochaktivem Krankheitsverlauf sollte rasch eine Therapieeskalation erfolgen. Ist ein gewisser Behinderungsgrad bei einem Patienten erst erreicht, weiß man, dass der weitere Verlauf stereotyp abläuft und meist nicht mehr wesentlich zu beeinflussen ist.

    Das Fortschreiten der Behinderung bei MS zu verstehen und wirkungsvoll zu behandeln, bleibt eine große Herausforderung. MS Patienten wechseln teilweise von einem schubförmig-remittierenden Verlauf zu einem Krankheitsverlauf mit fortschreitender Behinderung, aber es ist nicht bekannt, warum und wodurch diese Umwandlung erfolgt, und weshalb einige MS Patienten nie ein solches Fortschreiten erfahren. Tiefere Erkenntnisse hierzu könnten helfen, Therapiestrategien zu entwickeln, um ein Fortschreiten der MS und der Behinderung zu verlangsamen oder zu verhindern. Bei einem Fortschreiten der Behinderung auch ohne Schübe ähnelt die MS einer neurodegenerativen Krankheit, für die keine zufriedenstellenden Therapieoptionen verfügbar sind. Jüngste Vermutungen zu einer zugrunde liegenden primären Neurodegeneration erklären nicht eindeutige Charakteristika der sekundär-progredienten MS wie beispielsweise eine beschleunigte Atrophie der Grauen Substanz mit Wechsel von der schubförmigen zur progressiven Phase. Dies verlangt nach einer Trennung der Prozesse und Risikofaktoren, die mit dieser Krankheitsentwicklung einhergehen.

    In jedem Fall wird eine Kombination aus antientzündlicher und neuroprotektiver oder sogar neuroregenerativer Therapiestrategie einen Fortschritt in der Behandlung der MS darstellen, da dieser Erkrankung neben der entzündlichen Komponente auch eine neurodegenerative Pathologie zugrunde liegt. Der Einfluss des Älterwerdens und des Lebensstils auf das Immunsystem und das Nervensystem sowie die Auswirkungen von autoimmuner Entzündung auf neuronale Netzwerke sind dringende Forschungsziele für MS und neurodegenerative Krankheiten.

    Zuletzt muss es in den nächsten Jahren darum gehen, prognostische Marker zu erarbeiten, da trotz intensiver Forschung die zugrunde liegenden molekularen Mechanismen nicht vollständig geklärt sind und im Wesentlichen keine prognostische Einschätzung des Verlaufs sowie des Erfolgs einer Immuntherapie und deren Nebenwirkungen erfolgen können.


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    Prof. Dr. med. Frauke Zipp

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    Interessenkonflikte: Frauke Zipp has received research grants from Teva, Merck Serono, Novartis and Bayer as well as consultation funds from Teva, Merck Serono, Novartis, Bayer Healthcare, Biogen Idec Germany, ONO, Genzyme, Sanofi-Aventis and Octapharma. Her travel compensation has been provided for by the aforementioned companies.

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