Psychiatr Prax 2009; 36(1): 35-39
DOI: 10.1055/s-2008-1067462
Psychiatriegeschichte

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Was wissen wir wirklich über die militärpsychiatrische Behandlung des Gefreiten Adolf Hitler?

Eine literarisch-historische UntersuchungWhat Do we Really Know About How Lance-Corporal Adolf Hitler Was Treated by German Military Psychiatry?A Literary-Historical InvestigationPeter  Theiss-Abendroth
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Publication Date:
21 July 2008 (online)

Zusammenfassung

Anliegen Diese Arbeit untersucht die in der jüngeren Literatur vertretene Ansicht, dass Hitler seinen Aufstieg zur Macht unter anderem einer hypnotischen Behandlung verdanke, der er sich als Gefreiter wegen einer hysterischen Erblindung im Oktober 1918 unterzogen habe und die für eine weitreichende Persönlichkeitsveränderung verantwortlich gemacht wird. Methode Mithilfe von literarischen und historischen Quellen wird die Plausibilität dieser Annahme in drei Argumentationssträngen überprüft. Ergebnisse Eine Hypnosebehandlung Hitlers oder auch weitreichende Verhaltensänderungen in jener Zeit sind zwar nicht ausgeschlossen, aber sehr unwahrscheinlich. Schlussfolgerungen Die Hypothese, Hitler habe 1918 eine dauerhafte Persönlichkeitsveränderung durchgemacht, sei es aufgrund eines psychischen Traumas oder einer psychiatrischen Intervention, sollte aufgegeben werden.

Abstract

Objective This paper inquires the hypothesis that Hitler's rise to power was in part due to a hypnotic therapy he had undergone when being treated for hysterical blindness at an army hospital in the town of Pasewalk in October 1918 – as recent contributions have argued. Edmund Forster, his psychiatrist at that time, is supposed to have suggested to Hitler that he would be ordained as Germany's redeemer in times of defeat, thus causing a profound change in his patient's personality. Methods Following three lines of argument, this paper examines if such an assumption can be made plausible. Firstly, it takes a close look at the main historical source which is the novel The Eyewitness, written in German language by the Czech-Jewish author Ernst Weiß. Then it asks if Forster is likely to have chosen hypnosis as a method of treatment. Finally, it exploits the work of the even lesser known author Alexander Moritz Frey who happened to serve close to Hitler as a medical orderly in WW I, thus trying to validate whether or not Hitler really underwent a change of personality in autumn 1918. Results Although the eventualities of such a hypnotic treatment or a profound change in Hitler's behaviour in that time cannot be disproved, both seem highly unlikely. Conclusions One should altogether abandon the notion of Hitler having suffered a permanent change of personality in 1918, be it due to psychiatric treatment or to psychological trauma itself.

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Dr. med. Peter Theiss-Abendroth

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