ZFA (Stuttgart) 2008; 84(6): 225
DOI: 10.1055/s-2008-1081199
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Streit um britische Regierungspläne zu „hausärztlichen Polikliniken”

M.M. Kochen
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Publication Date:
17 June 2008 (online)

Englische Hausärzte gehören einer anerkannten Fachdisziplin an und leisten mit knapp bemessenen Finanzen qualitativ hochwertige, am Patienten orientierte Arbeit. Mithilfe eines uneingeschränkten „Gatekeeper-Systems” wird die primärärztliche Aufgabe der Koordination bewältigt und das zu deutlich besseren finanziellen Konditionen als hierzulande.

Die britische Regierung aber scheint mit der geschilderten Situation unzufrieden und hat für Juni dieses Jahres einen „final report on the next stage of NHS reform” angekündigt. Bereits Anfang Mai veröffentlichte der englische Gesundheitsminister und Professor für Chirurgie, Lord Darzi einen vorläufigen Bericht unter dem Titel „Leading Local Change”, in dem er Veränderungen im Gesundheitssystem anmahnte. Darin wird u. a. gefordert, dass in allen britischen primary care trusts (Gruppierungen von primärztlichen Gesundheitseinrichtungen, die einen Sicherstellungsauftrag für die gesamte medizinische Versorgung einer Region wahrnehmen) große Gesundheitszentren - polyclinics - geschaffen werden sollen. In diesen Einrichtungen könnten neben Hausärzten auch Spezialisten, Physiotherapeuten, Sozialarbeiter oder Apotheker arbeiten. Zunächst sollten in London 10 Pilot-Polikliniken und in zehn Jahren 150 solcher Institutionen eingerichtet werden.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt fragt der auswärtige Betrachter, was unter einer Poliklinik eigentlich genau zu verstehen sei. Poliklinik heißt laut Meyers Lexikon die einem Krankenhaus oder einer Klinik angeschlossene Abteilung zur ambulanten Untersuchung. Polikliniken als Institutionen der ambulanten Gesundheitsversorgung, in denen mehrere Disziplinen zusammenarbeiten, gab und gibt es in sozialistischen Ländern (und selbst in einzelnen deutschen Hochschulkliniken existier(t)en unabhängige internistische Abteilungen, die Patienten ohne Überweisung aufsuchen können).

Offensichtlich geht es der britischen Regierung um

den erleichterten Zugang von Patienten u. a. zu spezialistischen, insbesondere diagnostischen Einrichtungen, um die Belastung von Krankenhäusern zu reduzieren; eine bürokratieärmere Zusammenarbeit von Hausärzten und Spezialisten (inhaltlich gab es hier kaum jemals Probleme) und eine Zusammenlegung von kleineren Einzelpraxen zu größeren Organisationseinheiten.

Vor Erscheinen des endgültigen Berichts gibt es Grund genug für Spekulationen, aber auch für die involvierten Gruppen, sich rechtzeitig zu positionieren. So verlautete eine Gruppe von Allgemeinärzten aus Worcestershire, die vor dem Regierungssitz in der Londoner Downing Street protestierte, die Polikliniken seien das Ende der traditionellen Hausarztpraxis und würden geradewegs zu überdimensionierten, fabrikähnlichen Super-Gruppenpraxen führen. John Howie, emeritierter Professor für Allgemeinmedizin an der Universität von Edinburgh beklagte im gleichen Atemzug die Bedrohung der hausärztlichen Medizin durch immer stärkeren Einbezug von Konzepten der öffentlichen Gesundheit (public health) zu Lasten der individualisierten Medizin, falsche Anreize im Vergütungssystem, zunehmende Verlagerung der Patientenversorgung in Supermärkte und Bahnhofsstationen sowie den kontinuierlichen „Ersatz” hausärztlicher Tätigkeiten durch andere Berufsgruppen. Die Verlierer dieser Entwicklung seien die ganzheitliche Betreuung von Patienten, die Berufszufriedenheit von Hausärzten sowie die Effizienz und Effektivität des NHS.

Umgehend ließ der Gesundheitsminister dementieren. Ihm ginge es bei seinen Plänen nur um das Wohl des Patienten, um wissenschaftlich belegte Konzepte zur Förderung der Qualität und um regional von unten gesteuerte Prozesse. Wo solche Ziele bereits erreicht worden wären, sei die Einrichtung von Polikliniken überflüssig.

Martin Roland, Professor für Allgemeinmedizin aus Manchester und Berater der Regierung, räumt zwar Mängel beim Zugang von Patienten zu Gesundheitsdiensten in einigen Landesteilen ein. Von den Plänen Darzis hält aber auch er nicht allzu viel. Die Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und Spezialisten sei in gemeinsamen Sprechstunden in Allgemeinpraxen wesentlich besser zu realisieren als in Polikliniken. Auch würden kleinere Praxen zu Unrecht gescholten, weil deren Qualität besser abschneide und deren Patienten zufriedener seien als diejenigen von größeren Einheiten.

Ob die in letzter Zeit zunehmenden Wahlverluste der britischen Labour-Partei die Überlegungen ausgelöst haben? Die politische Konkurrenz in bald erwarteten Neuwahlen dürfte dafür sorgen, dass die Pläne auf absehbare Dauer die Papierschublade nicht verlassen.

Herzlich

Ihr

Michael M. Kochen

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. M.M. KochenMPH, FRCGP 

Facharzt für Allgemeinmedizin

Abteilung Allgemeinmedizin

Georg-August-Universität

Humboldtallee 38

37073 Göttingen

Email: mkochen@gwdg.de

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