Z Orthop Unfall 2023; 161(05): 481-482
DOI: 10.1055/a-2149-9996
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

Interview mit Prof. Dr. med. Peter Wolfgang Gaidzik, Hamm

Arzt und Rechtsanwalt mit den Fachgebieten Medizinrecht, Medizinstrafrecht, Versicherungsrecht und Personenschaden
Frank Lichert

Stellen Sie bitte kurz Ihre Kanzlei und thematischen Schwerpunkte vor.

Unsere Kanzlei beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit medizinrechtlichen Fragen, aber auch mit den medizinischen Schnittbereichen im Privatversicherungsrecht sowie Sozialversicherungsrecht. Sowohl in der privaten oder gesetzlichen Unfallversicherung, in der Berufsunfähigkeits- oder (gesetzlichen) Rentenversicherung als auch im Schwerbehinderten- und sozialen Entschädigungsrecht – stets bildet die möglichst vollständige Erfassung der Funktionsstörungen und deren gebietsspezifische Bewertung einen zentralen Aspekt in der Leistungsgewährung oder -ablehnung. Zudem leite ich persönlich seit rund 20 Jahren das Institut für Medizinrecht an der Universität Witten/Herdecke und bin als geschäftsführendes Vorstandsmitglied der dortigen Ethikkommission auch in die medizinische Forschung involviert.

Ihre Kanzlei vertritt sowohl Ärztinnen und Ärzte als auch Patientinnen und Patienten, birgt dies nicht ein gewisses Konfliktpotenzial?

Wir vertreten Medizinerinnen und Mediziner sowie Patientinnen und Patienten, das ist korrekt, aber auch Versicherungsgesellschaften. Dies ist eine ganz bewusste Entscheidung. Wir wollen einerseits verhindern, auf Dauer betriebsblind in Bezug auf die Sorgen und Nöte der jeweils anderen Seite zu werden, andererseits möchten wir uns die aus unserer Sicht notwendige Unabhängigkeit bewahren. Was bedeutet das? In Deutschland herrscht insbesondere im Arzthaftungsrecht eine ungute Situation dahingehend, dass es Versicherungsgesellschaften vorziehen, möglichst (ausschließlich) mit ihren Vertragsanwältinnen und -anwälten zusammenzuarbeiten. Zumindest aber müssen die Kanzleien garantieren, keine Mandate auf Patientenseite wahrzunehmen. Dies halte ich für wenig sachgerecht und im Einzelfall höchst problematisch. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie haben als Vertragsanwältin oder Vertragsanwalt Anhaltspunkte dafür, dass die von Ihnen vertretene Medizinerin bzw. der vertretene Mediziner vorsätzlich gehandelt hat. Es wurde bspw. eine nicht notwendige medizinische Maßnahme empfohlen, mit dem erkennbaren Ziel der Abrechenbarkeit lukrativer Leistungen. Hier besteht für die Anwältin oder den Anwalt ein Dilemma. Bei vorsätzlichem Handeln erlischt nämlich der Versicherungsschutz. Soll hierüber die Versicherungsgesellschaft als Auftraggeber informiert werden, um ggf. Leistungsfreiheit auch bei verlorenem Rechtsstreit zu erreichen? Oder behalten Sie diesen Umstand für sich, um nicht den Versicherungsschutz der Mandantin oder des Mandanten zu riskieren, falls sie/er zahlungspflichtig verurteilt werden sollte? Ich persönlich würde in einem solchen Fall das Mandat niederlegen, aufgrund einer Interessenkollision, was aber eine – auch finanzielle – Unabhängigkeit voraussetzt, zumal nur noch wenige Versicherungsgesellschaften die Heilwesenhaftpflicht in ihrer Produktpalette haben. Da die Kanzlei hinsichtlich unserer Mandantinnen und Mandanten breit aufgestellt ist, können wir in solchen oder ähnlichen Problemfällen wesentlich freier agieren und notfalls kritische Mandate beenden.

Wie gestaltet sich Ihre Zusammenarbeit mit Gutachterinnen und Gutachtern in der Medizin?

Im Fall einer möglichen Arzthaftung prüfen wir auf Patientenseite zunächst die Behandlungsdokumentation. Aber selbst auf Behandlerseite erscheint aus unserer Sicht ein solches Vorgehen notwendig, um in einem eventuellen späteren Prozess keine bösen Überraschungen zu erleben. In beiden Konstellationen arbeiten wir auf verschiedenen Ebenen mit medizinischen Sachverständigen zusammen. Die Haftpflichtversicherungen verfügen über ein eigenes Netz von Gutachterinnen und Gutachtern, die uns im konkreten Fall mit Informationen versorgen können. Auf Basis dieser Informationen versuchen wir eine erste Klärung der erhobenen Vorwürfe herbeizuführen und unsere Beratungs- oder ggf. Prozessstrategie daran auszurichten.

Wie stellt sich die Situation bei einer Patientenvertretung dar?

Hier ist es tatsächlich komplizierter. Wir versuchen zunächst, eine Gutachterin oder einen Gutachter zu identifizieren, der zu tragbaren Konditionen ein Gutachten erstellt. Anders als im Bereich der Straßenverkehrshaftung mit Pkw-Schäden fallen die Kosten für ein Privatgutachten bei Personenschäden nicht in die Leistungspflicht der Rechtsschutzversicherungen. Hierin liegt einerseits eine klare Benachteiligung der Patientenseite, andererseits aber auch ein potenzielles Risiko für die Rechtsschutzversicherungen, die mangels eigener Expertise Prozesse finanzieren müssen, die von vornherein keine/kaum Aussicht auf Erfolg haben. Kostenfreie Alternativen wie Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen bei den Ärztekammern oder – für gesetzlich Versicherte – der Medizinische Dienst sind nicht für jede Fragestellung sinnvoll. Werden wir hingegen von Haftpflichtversicherungen beauftragt, sind Kostenfragen nachrangig, und man verfügt dort auch eher über ein Netz fachkundiger Berater.

Bietet Ihre Kanzlei ebenfalls Sachverständigendienstleistungen an?

Nein, das wäre, abgesehen von der methodenkritischen Prüfung andernorts eingeholter Gutachten, unseriös. Wir helfen aber unserer Mandantschaft dabei, geeignete Sachverständige zu finden. Wir begleiten dann den Begutachtungsprozess, indem wir auf Grundlage unserer Vorprüfung die Fragen formulieren, ggf. in Kommunikation mit den Gutachtern präzisieren und das Gutachten im Ergebnis fachlich auswerten.

Ich möchte auf ein weiteres Thema zu sprechen kommen, die Befangenheit von Gutachterinnen und Gutachtern. Wie oft kommt so etwas vor?

Sagen wir es mal so, die Häufigkeit von Befangenheitsanträgen bei Gericht steht in einem deutlichen Missverhältnis zu deren Erfolg. Ich selbst habe in 25 Jahren insgesamt (nur) 5 Anträge gestellt, die in 3 Fällen erfolgreich waren. Das hängt damit zusammen, dass die Voraussetzungen eines Befangenheitsantrags sehr restriktiv ausgestaltet sind. Unter anderem müssen aus „objektiver Sicht“ einer „verständigen Partei“ schlüssige Gründe vorliegen, die einen Hinweis darauf geben, dass eine Befangenheit vorliegt, was letztlich der Ermessensbeurteilung des Gerichts unterliegt. Weder fachliche Fehler noch ein „unerwünschtes“ Ergebnis bilden einen tauglichen Grund für die Besorgnis der Befangenheit. Auch die Tatsache, dass sich die Gutachterin oder der Gutachter und die beschuldigte Ärztin oder der beschuldigte Arzt kennen, ist keine ausreichende Grundlage. Bei kleinen Fachgesellschaften lässt es sich überhaupt nicht vermeiden, dass man sich von Kongressen her kennt oder dort in gemeinsamen Sessionen Vorträge gehalten hat. Dies reicht nicht aus, um die Neutralität einer Gutachterin oder eines Gutachters infragezustellen. Erst bei Dutzfreundschaften, verwandtschaftlichen Beziehungen oder bei Über-/Unterordnungsverhältnissen auf dem Berufsweg sieht die Sache anders aus. Zusammenfassend sind Befangenheitsgründe weit weniger das Problem als qualitative Defizite, denn Kompetenz in der klinischen Versorgung ist nicht gleichbedeutend mit der notwendigen gutachterlichen Expertise.

Wer überprüft die Qualität von Gutachten?

In Deutschland und anderen europäischen Rechtsordnungen ist es so, dass die Auswahl der Sachverständigen durch das Gericht erfolgt. Im Gegensatz zum angloamerikanischen Rechtssystem, wo jede Partei ihre eigenen Sachverständigen „ins Feuer schickt“, wodurch eine gewisse Pluralität in den Meinungen sichergestellt ist. Hierzulande geht der Gesetzgeber davon aus, dass es außerhalb des Rechts nur „eine Wahrheit“ gibt, es mithin grundsätzlich auch nur eines Gutachtens durch eine „neutrale, objektive Instanz“ bedarf. Deshalb erfolgt die Bestellung durch das Gericht. Dies blendet prozedural den wissenschaftsimmanenten Meinungsdiskurs aus. Die Qualitätskontrolle bleibt damit den übrigen Prozessbeteiligten überlassen, die naturgemäß mehr oder weniger sachkundig sind. Privatgutachten sind natürlich möglich, gelten jedoch nur als „substanziierter Parteivortrag“. Eine unmittelbare Konfrontation in mündlicher Anhörung sieht zumindest die Zivilprozessordnung nicht vor.

Über welche Fähigkeiten muss ein guter medizinischer Sachverständiger verfügen?

Zunächst einmal sollte die Gutachterin oder der Gutachter die rechtlichen Rahmenbedingungen der Begutachtung kennen. Ihr oder ihm muss klar sein, dass im Rahmen einer Begutachtung andere Maßstäbe gelten als in ihrer kurativen Tätigkeit. Dort glaube ich der Patientin oder dem Patienten, wenn sie oder er über Beschwerden klagt. Als medizinischer Sachverständiger muss ich hingegen willens und in der Lage sein, die Beschwerden der Probandin/des Probanden zu objektivieren. Dieser „Kappenwechsel“ ist nicht immer präsent, für eine Begutachtung aber essenziell. Ein medizinisch und juristisch einwandfreies Gutachten setzt gleichzeitig umfassende Kenntnisse der aktuellen Studienlage zum Thema voraus. Ich durfte an der Entwicklung der Curricularen Fortbildung „Medizinische Begutachtung“ der Bundesärztekammer mitwirken und engagiere mich seit über 20 Jahren in Gutachterfortbildungen der Ärztekammern und wissenschaftlichen Fachgesellschaften. Das Interesse hat – glücklicherweise – zugenommen, aber es gibt leider auch gegenteilige Tendenzen. So war es meiner Ansicht nach ein Fehler, die Begutachtung aus der Weiterbildungsordnung herauszunehmen. Arbeitsverdichtung und die gegenüber anderen Sachverständigengruppen schlechtere Vergütung medizinischer Gutachten tragen nicht dazu bei, bei jüngeren Kolleginnen und Kollegen die Bereitschaft zu erhöhen, Zeit und Kosten in entsprechende Fortbildungen zu investieren – von der gewandelten Einstellung zur „Work-Life-Balance“ noch völlig abgesehen.

In welchen Bereichen sehen Sie im medizinischen Begutachtungswesen in Deutschland Verbesserungsbedarf?

Wenn Sie etwa ins europäische Ausland schauen, dann finden Sie dort andere Konzepte, die es wert sind, betrachtet zu werden. Ärztinnen und Ärzte aus Österreich, die gerichtliche Sachverständige werden wollen, müssen ein Zertifikat bei der jeweiligen Ärztekammer erwerben. In Frankreich stellt die Begutachtung in der Medizin ein eigenständiges Verfahren dar. Die Interaktion der Gutachterinnen und Gutachter mit den Gerichten ist dort deutlich weniger intensiv ausgeprägt. Die Sachverständigen arbeiten im Grunde genommen autark, und die Anforderungen hinsichtlich der Qualifikation der Gutachterinnen und Gutachter sind deutlich höher als hierzulande.

Was wünschen Sie sich konkret für Deutschland?

Ich wünsche mir von den hiesigen Gerichten, dass diese bei der Auswahl von Gutachterinnen und Gutachtern mehr auf die gutachterliche Qualifikation achten und weniger auf den Status der betreffenden Person in der medizinischen Community – also ob es sich bspw. um eine Chefärztin oder einen Chefarzt oder sogar um Ordinarien handelt. Dies sind für mich die falschen Auswahlkriterien. Auch die Kosten des Gutachtens sollten keine zentrale Rolle spielen. Weiterhin sollten die Gerichte in Deutschland häufiger davon Gebrauch machen, ein erstelltes Gutachten wenigstens beim Instanzenwechsel durch ein weiteres Gutachten überprüfen zu lassen, nicht nur bei erkennbaren Defiziten. Die Ärzteschaft sollte die ärztliche Begutachtung stärker als fachlich anspruchsvolle und gesellschaftlich immens wichtige Aufgabe wahrnehmen.

Die Fragen stellte Dr. Frank Lichert.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
28. September 2023

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