Psychother Psychosom Med Psychol 2012; 62(06): 203
DOI: 10.1055/s-0032-1305082
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Auf dem Weg zur Neudefinition von „systemisch“?

On the Way to a New Definition of “systemic”?
Franz Caspar
Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität Bern, Schweiz
› Author Affiliations
Further Information

Publication History

Publication Date:
25 May 2012 (online)

Zoom Image
Prof. Dr. Franz Caspar

Günter Schiepek hat unter dem harmlos erscheinenden Titel „Systemische Therapie – ein Beitrag zur Therapieintegration“ ein Manuskript eingereicht, das bereits im Reviewprozess zu einigen Diskussionen Anlass gegeben hat. Neben den üblichen kleineren Vorschlägen zur besseren Klärung des einen oder anderen wurde auch deutlich gemacht, dass die Ansichten von Günter Schiepek im systemischen Lager keineswegs einhellig Zustimmung finden würden.

Für den Autor gilt „die systemische Konstitution fast aller Naturphänomene und insbesondere des Menschen. Der überwiegende Teil der Phänomene in der unbelebten wie der belebten Natur beruht auf Wechselwirkungen und Rückkopplungen zwischen Teilen und/oder Kräften“ … „In den meisten Fällen handelt es sich um nicht lineare Wechselwirkungen“. Er räumt gut konstruktivistisch ein, dass es sich dabei nicht um „in der Natur des Seins liegende“ Phänomene handeln muss, dass es sich vielmehr um ein Ergebnis unserer Betrachtung handeln kann.

Wer Schiepek als Autoren kennt, wird keinen leicht verdaulichen Text erwarten, mit dem Lesen auf einen ausgeschlafenen Moment warten, und die Lektüre mit einem hohen Maß an Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Komplexität und intellektueller Herausforderung beginnen.

Wie bei vielen älteren Texten des Autors lohnt sich aber aus unserer Sicht das Investment.

Schiepek verbindet Überlegungen zum selbstorganisierten Funktionieren des Gehirns, zu den relativ geringen Wirkungsunterschieden zwischen Therapien unterschiedlicher Ausrichtung, zur Beobachtung sprunghafter Veränderungen in Psychotherapien u. a. m.

Er schlägt dann eine Definition von systemischen Therapien (klein geschrieben) vor, der erheblich vom Verständnis Systemischer Therapie (als Ansatz groß geschrieben) abweicht. Schiepek selber schreibt: „Es geht hierbei um einen wahrscheinlich nicht allgemein konsensfähigen und von verschiedenen weitverbreiteten Auffassungen von Psychotherapie durchaus abweichenden Vorschlag“.

Genau darum ging es auch im Reviewprozess: Sollte Schiepek an die Leine genommen und daran erinnert werden, was „Systemische Therapie“ weitherum heißt? Sollte sich die PPmP mit der Veröffentlichung kommentarlos hinter den neuen Definitionsvorschlag stellen?

Der Umgang der Herausgeber mit diesem aus der Routine herausragenden Manuskript ist, seine Besonderheit mit diesem Editorial zu markieren, und Sie, liebe Leserinnen und Leser, zur Auseinandersetzung mit dem Text aufzufordern. Dies richtet sich nicht nur an Systemische Therapeuten, sondern an Vertreter aller Richtungen: In welchem Maße und in welcher Hinsicht sind Sie (kleingeschriebene) systemische Therapeuten, und überzeugen Sie die Schiepekʼschen Überlegungen so weit, dass Sie sich daran messen wollen? Ist Schiepeks systemischer Ansatz eine willkommene Ordnungshilfe für das Verständnis verschiedener Entwicklungen in der Psychotherapie oder eine unzulässige Vereinnahmung?

Schicken Sie uns Ihre Kommentare und Stellungnahmen an ppmp@thieme.de