PPH 2014; 20(05): 244-246
DOI: 10.1055/s-0034-1390253
Szene
Sofagespräch
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Heute auf dem Sofa: Frank Vilsmeier

Sabine Hahn im Gespräch mit Pflegeexperten
Sabine Hahn
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Publication Date:
23 September 2014 (online)

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(Grafik: Anja Jahn)

Frank Vilsmeier (RbP) ist Pflegedienstleiter im Psychiatrischen Zentrum Rickling, Deutschland.

Lieber Herr Vilsmeier, Sie arbeiten seit über 33 Jahren in der Psychiatrischen Pflege in unterschiedlichsten Positionen, vom Pflegehelfer bis zur Pflegedienstleitung. Welche Menschen, welche Erfahrungen haben Sie auf Ihrem Berufsweg am meisten beeinflusst?

Mein Weg in die Pflege begann mit einem kleinen Umweg. Eigentlich wollte ich nach der Realschule einen bereits zugesagten Schulplatz am Fachgymnasium antreten. Mein Ziel war, ein Sozialpädagogikstudium beginnen zu können. Ich hatte jedoch nicht mit dem Widerstand meines Vaters gerechnet. Nicht volljährig und ohne Aussicht auf Unterstützung begann ich eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. Ein Jahr und 15 Tage habe ich es ausgehalten.Dann empfahl mir ein Freund, mich in der damaligen „Ricklinger Anstalt“ als Pflegehelfer zu bewerben. Dort fand ich ein Berufsfeld, das mir sehr zusagte. Die Psychiatrie befand sich 1980, nach der Psychiatrie-Enquête von 1975, in sozialpsychiatrischer Aufbruchstimmung. In den ersten drei Jahren als Pflegehelfer haben mich Bücher, wie zum Beispiel „Irren ist menschlich“ von Klaus Dörner und Ursula Plog oder „Affektlogik“ von Luc Ciompi, sehr beeindruckt.Vorbilder waren Kolleginnen und Kollegen, die ihre Aufgaben aus der Perspektive der Patienten reflektierten und gestalteten. Also fachkompetente Mitarbeiter, die sich selbst und ihre eigene Vorstellung von dem, was ist und sein soll, nicht so sehr in den Vordergrund stellten.Gleichermaßen waren es psychisch kranke Menschen selbst, die mich beeindruckten. Während der Begegnung mit ihnen haben sich für mich immer wieder Fragestellungen ergeben, die mir von ihnen, vom Team oder durch eigene Recherche beantwortet wurden. Nachdem sich eine Krankenpflegeschule in unserer Einrichtung, inzwischen das „Psychiatrische Krankenhaus Rickling“, etabliert hatte, habe ich 1983 die Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger begonnen.Interesse, Neugier und der Gestaltungswunsch für eine menschliche und fachlich kompetente Psychiatrie haben mich stets bewegt – wohl auch eine übergreifende Mission. Meine Mutter suizidierte sich, als ich 12 Jahre alt war. Mein Onkel verbrachte elf Jahre in der Forensik, bis zur Erkenntnis einer Fehldiagnose. Ich bin davon überzeugt, dass diese Ereignisse in meiner Jugendzeit meine Vorstellungen von einer empathischen und fachkompetenten psychiatrischen Arbeit stets begleitet haben.

Sie engagieren sich stark für die Entwicklung der Pflege und berufspolitisch in der Bundesfachvereinigung Leitender Krankenpflegepersonen der Psychiatrie (BFLK), Sie sind Landesvorsitzender und Mitglied des Pflegerats Schleswig-Holstein. Welche Faktoren haben dazu beigetragen, dass Sie heute diese Funktionen ausüben?

Wir können die Verhältnisse, in denen wir unsere Aufgaben wahrnehmen, nur in dem Maß gestalten, wie es die von außen gesetzten Rahmenbedingungen erlauben. Gesetzliche Regelungen und die Refinanzierung der Leistungen sind nicht vom Himmel gefallen. Unsere Arbeitsfähigkeit wird im Äußeren von Menschen mit unterschiedlichster Fach- und Feldkompetenz zur Psychiatrie beziehungsweise dem Gesundheitswesen mitbestimmt. Wie diametral das auseinandergehen kann, können wir an der Entwicklung der Psych-PV im Gegensatz zu der des Pauschalierenden Entgeltsystems für Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP) feststellen.Hier setzt zum Beispiel die berufspolitische Arbeit ein. Neben der Entwicklung unserer eigenen Fachlichkeit müssen wir auch mit dafür sorgen, dass wir diese vernünftig umsetzen können. Das ist mir ein sehr wichtiges Anliegen.Im ersten Drittel meiner Tätigkeit war ich in der Deutschen Gesellschaft für Sozial-Psychiatrie Mitglied. Im zweiten Drittel, da ich zehn Jahre in der Mitarbeitervertretung aktiv war, bei der Gewerkschaft ver.di. Nun bin ich seit elf Jahren Mitglied der BFLK, seit 2007 Landesvorsitzender und Mitglied des Pflegerats Schleswig-Holstein. 2012 habe ich dessen Vorsitz übernommen.

Was macht ein Landesvorsitzender oder ein Pflegerat eigentlich?

Berufspolitische Arbeit für alle beruflich Pflegenden auf Landesebene. Wir fordern die politische Beteiligung an allen, die berufliche Pflege betreffenden Regelungen. So ist es gelungen, dass wir die Mitgliedschaft im Gemeinsamen Landesgremium zur Entwicklung medizinischer Strukturen im Gesundheitswesen (SGB V) und im Landespflegeausschuss (SGB XI) erhalten haben.Das wichtigste Ziel, die Errichtung einer Pflegekammer, ist jetzt auf dem Weg. In diesem Jahr wird das Pflegekammergesetz verabschiedet. 2015 wird ein Errichtungsausschuss alle Vorbereitungen für die erste Kammerversammlung treffen, sodass wir gemeinsam mit Rheinland-Pfalz die erste Selbstverwaltung der beruflichen Pflege in Deutschland haben werden. Niedersachsen wird kurze Zeit später folgen.Es ist dann nur noch eine Frage der Zeit, bis wir umfänglich in der Lage sein werden, politisch und beruflich zunehmend Selbstwirksamkeit zu besitzen. Mit einer Pflegekammer ist das grundlegende berufspolitische Ziel, für die professionelle Entwicklung der beruflichen Pflege eigene Regelungshoheiten zu erhalten und äußere Rahmenbedingungen mitgestalten zu können, erreicht.

Wenn ich auf meine 33 Jahre Berufserfahrung zurückblicke, hat sich einiges bewegt und die Pflege hat sich enorm weiterentwickelt und professionalisiert. Diese Verantwortung, die mit der von Ihnen maßgeblich beeinflussten beruflichen Entwicklung verbunden ist, sollte die Pflege nun auch tragen können. Trotzdem gibt es immer noch „alte Zöpfe“, die noch nicht abgeschnitten sind. Was sind nach Ihrer Meinung die größten Errungenschaften und Altlasten auf dem Entwicklungsweg der Pflege?

Die berufliche Pflege war in Deutschland von 1989 bis 1996 auf einem guten Weg. Die Personalstellen wurden 1992 durch die Regelung über Maßstäbe und Grundsätze für den Personalbedarf, kurz Pflegepersonal-Regelung (PPR), in der stationären somatischen Krankenpflege und 1990 mit der Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) in der Psychiatrie geregelt. Die fachliche Ausgestaltung der Pflege und die Professionalisierung des Berufs erhielten ein stabiles Fundament.Das wurde seitdem systematisch und kontinuierlich geschwächt. Eine Personalbemessung ist seit 1996 mit der Aushöhlung der Psych-PV durch die ausschließliche Refinanzierung tariflicher Personalkostensteigerung auf Basis der Veränderungsrate von sozialversicherungspflichtigen Beiträgen, durch die Abschaffung der PPR im Jahr 1997 und die Einführung des DRG-Systems 2003 nur noch virtuell anwendbar.Erstaunlich ist jedoch, dass trotz dieser widrigen Bedingungen – oder vielleicht gerade deswegen – die akademische Professionalisierung der Pflege eine inzwischen durchdringende Entwicklung erfahren hat. Sie muss stetig weiterentwickelt werden. Wenn sich die berufspolitische Professionalisierung fortsetzt und eine vernünftige Personalbemessung wieder eingeführt wird, dann erhält die berufliche Pflege in Deutschland den Stellenwert, der ihr zusteht. Dafür braucht es aber viele engagierte Kolleginnen und Kollegen. Wenn ich mir die Psychiatrische Pflege und deren wachsendes Engagement anschaue, habe ich große Hoffnung, dass wir uns eine moderne Frisur zulegen können.

In welche Richtung sollte sich nach Ihrer Meinung die Psychiatrische Pflege in den deutschsprachigen Ländern weiterentwickeln?

Die Psychiatrische Pflege wird in der Ambulantisierung eine gewichtige Rolle spielen. Gute Beispiele und eine verbindende Organisation, die Bundesinitiative Ambulante Psychiatrische Pflege (BAPP), gibt es bereits. Die Bedingungen dafür sind jedoch noch sehr heterogen und es besteht bei den Kostenträgern kein einheitliches Konzept für die strukturelle und finanzielle Ausgestaltung.Unterstützt wird die ambulante und stationäre Psychiatrische Pflege von dem wachsenden Anteil pflegewissenschaftlicher Kollegen, die fundierte pflegeorientierte Modelle und Methoden bereitstellen. Es muss gelingen, das Bielefelder Konzept der akademischen Fachweiterbildung „Psychiatrische Pflege“ in allen Bundesländern zur Verfügung zu stellen.Im Zuge dessen werden wir unsere Wirksamkeit – vom früheren multidisziplinären Nebeneinander der Berufsgruppen, über den jetzigen Zwischenschritt des interdisziplinären Teams hin zur transdisziplinären Zusammenarbeit auf der Basis evidenter Pflegekompetenzen – herausstellen können. Die Psychiatrische Pflege wird sich mit ihrer durchgehenden Präsenz und Nähe zu den Patienten und Klienten zum Dreh- und Angelpunkt in allen wesentlichen psychiatrischen Versorgungsstrukturen entwickeln.

Von 2005 bis 2013 organisierten Sie mit weiteren engagierten Berufskolleginnen und -kollegen die Symposien und Workshops der Psychiatrischen Pflege im DGPPN-Kongress (Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde). Mit Gründung des Referats Psychiatrische Pflege und der vollständigen Integration der Psychiatrischen Pflege in den DGPPN-Kongress scheint ein wichtiger Meilenstein erreicht. Ich habe den DGPPN-Kongress neben einer Wissensbörse als riesiges Marketingevent für Medikamentenhersteller und Industrie erlebt. Warum lohnt es sich trotzdem, dabei zu sein beziehungsweise welche Gefahren birgt dies für die Psychiatrische Pflege?

Die sogenannte Industrieausstellung ist im Kontext der herausragenden Ergebnisse in der Zusammenarbeit mit der DGPPN durch uns bisher wenig in Kritik geraten. Auch, weil die DGPPN selbst verstärkt einer Einflussnahme der Industrie, zum Beispiel mit den Selbsterklärungen zu den Industriebeziehungen der Referenten, begegnete.Die Aussteller haben sich in den letzten Jahren weiter zurückgezogen. Das Marketing wird pragmatischer, die Verschleuderung von Werbemitteln geringer. Wir haben uns immer bemüht, die Teilnahmegebühren für die Pflegeberufe handhabbar günstig zu halten. Ein Ausschluss des Marketings hätte die Gebühr für die Pflegeberufe deutlich steigen lassen.Ich habe in den ersten beiden Jahren diese Werbeveranstaltungen ebenso als massive Einflussnahme interpretiert. Dann habe ich aber auch bemerkt, dass mit genügend Abstand und Differenzierung von Evidenz- und Werbeaussage meine Erkenntnisgewinne überwiegen. Beeinflussung und Wissensvermittlung auseinander zu halten traue ich auch den meisten Kollegen zu.

Ihre Leidenschaft für die praktische Psychiatrische Pflege zeigt sich auch im Mitwirken bei der Gründung der Deutschen Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege (DFPP). Warum braucht es diese Fachgesellschaft – es scheint doch in Deutschland schon so viele Gesellschaften und Räte zu geben?

In der Tat hat es viele Diskussionen über eine Diversifizierung der Berufsverbände gegeben. Der Deutsche Pflegerat war irritiert. Ich halte es trotzdem für einen wichtigen Schritt, den jeweiligen Kernkompetenzen Raum zur Entwicklung zu geben. Die BFLK ist im Grundsatz ein Berufsverband für das Pflegemanagement in der Psychiatrie. Die ambulante Pflege hat eine gute Vertretung, die BAPP.Hier schließt die DFPP eine wichtige Lücke und füllt sie inzwischen sensationell gut aus. Nach einer Storming-Phase befinden sich alle drei Verbände mit einem ersten Verbändedialog auf einer Normierungsebene, die Gemeinsamkeiten bündelt und sie entsprechend nach außen trägt. Ich gehe davon aus, dass wir uns auf einen Dachverband der Psychiatrischen Pflege einstellen können.

Was könnte die schweizerische und österreichische Pflegeszene von der Entwicklung in Deutschland lernen?

Die Entwicklung des neuen Psychiatrie-Entgelts hat eine besonders gute Zusammenarbeit der pflegerischen und ärztlichen Fachverbände bewirkt. Es zeigt sich, dass im dauerhaften Dialog und sachlichen Miteinander enorme Chancen für das Erreichen der gemeinsamen Ziele stecken. Wir werden diese Zusammenarbeit, innerhalb und außerhalb der DGPPN, konsequent weiterentwickeln und uns freuen, wenn das in unseren Nachbarländern gleichermaßen umgesetzt werden kann.

Mit all Ihren Tätigkeiten und Verpflichtungen ist Zeit für Sie sicher ein kostbares Gut. Was bedeutet Zeit für Sie?

Jede Zeit hat einen Nutzen. Aktive Zeit und Müßiggang unterstützen sich gegenseitig. Das Eine ist nichts ohne das Andere. Nichtstun ist ein Geschenk für das Vieltun. Je intensiver das Eine ist, desto intensiver kann das Andere erlebt werden. Ich befinde mich daher beidseits auf der „Intensivstation“.

Sie studieren Gesundheits- und Sozialmanagement. Wie ist das neben Ihrem großen Arbeitspensum noch möglich?

Die Klausuren sind abgeschlossen, jetzt stehen „nur noch“ Hausarbeiten und die Abschlussarbeit an. Der Lernstoff entsprach in großem Maße meinen beruflichen Aufgaben, sodass ich berufsbegleitend in einem praktisch relevanten Anwendungsfeld studieren konnte. Insofern erlebe ich das Studium unterstützend.

Lieber Herr Vilsmeier, in Anbetracht Ihrer kostbaren Zeit danke ich Ihnen herzlich, dass Sie diese mit mir auf dem Sofa verbracht haben. Zum Schluss stelle ich allen meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern die Frage, was in ihrem Reisegepäck nie fehlen darf. Wie sieht das bei Ihnen aus?

Wenn ich reise, habe ich die Zeit, Fachbücher und -zeitschriften entspannt zu lesen. Davon ist immer etwas dabei.