Laryngorhinootologie 2000; 79(5): 311-312
DOI: 10.1055/s-2000-344
Der interessante Fall
Georg Thieme Verlag Stuttgart ·New York

Der interessante Fall Nr. 34

 J. Neuburger ,  B. Schwab
  • Medizinische Hochschule Hannover, Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde (Direktor: Prof. Dr. T. Lenarz)
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

Eine 40-jährige Patientin stellt sich am Abend notfallmäßig vor. Anamnestisch ist zu erfahren, dass am Morgen des Vorstellungstages eine zahnärztliche Behandlung stattgefunden habe, bei der ein Backenzahn des linken Oberkiefers für eine Krone zugeschliffen worden wäre. Der Zahnarzt habe den Zahn mit Druckluft getrocknet, es sei unmittelbar danach zu einer Schwellung der linken Wange gekommen. Ein niedergelassener HNO-Arzt habe eine orale Antibiose verordnet. Am Abend sei es nun mehrfach zu Panikattacken mit Luftnot und Schluckbeschwerden gekommen. Daher erfolgte die notfallmäßige Vorstellung in der HNO-Klinik.

Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie und welche diagnostischen Maßnahmen würden Sie veranlassen?

Befunde und diagnostischer Gang

Die Eigenanamnese war im Wesentlichen unergiebig, insbesondere wurden bekannte Allergien verneint. Ein Nikotinkonsum von 20 Zigaretten/d wurde angegeben. Klinisch fand sich eine schmerzlose Schwellung von linker Wange und linkem Unterlid (Abb. [1]). Palpatorisch konnte hier ein deutliches Papierknistern gefunden werden. Darüber hinaus war Papierknistern auch am inspektorisch unauffälligen linken Hals feststellbar. Lokale Überwärmung, Verfärbungen oder Fieber fanden sich nicht. Inspektorisch konnte man im Mundraum ein Provisorium am bearbeiteten Zahn (2. Prämolar Oberkiefer links) sehen. Lupenlaryngoskopisch fanden sich beidseits schlanke Aryknorpel; die Stimmbänder waren regelrecht beweglich und unauffällig, die Glottis weit. Hinweise auf Schwellungen fanden sich nicht.

Das Blutbild und das C-reaktive Protein waren unauffällig. Bei der sonographischen Untersuchung von Hals- und Gesichtsweichteilen fanden sich verstreut Schallauslöschungen im Subkutangewebe und in den Faszienräumen (Abb. [2]). Die computertomographische Untersuchung zeigte ein Weichteilemphysem, das vom Unterrand der linken Orbita bis zur Höhe der linken Supraclavikulargrube nachweisbar war (Abb. [3]). Zusätzlich waren Luftdepots in der Fossa infratemporalis zu erkennen.

Diagnose: Weichteilemphysem des Halses nach Druckluftinsufflation.

Weichteilemphyseme nach Luftinsufflationen wurden insbesondere in der zahnärztlichen Literatur wiederholt beschrieben. Die offenbar erste Publikation dieser Art reicht in das Jahr 1900 zurück, als Turnbull den Fall eines Blasmusikers aus dem Jahre 1870 beschrieb, der unmittelbar nach einer Zahnextraktion eine Trompete blies [6]. Zahnextraktionen sind nach wie vor eine häufige Ursache dieser ansonsten seltenen Komplikaton [1] [3] [7], insbesondere in Verbindung mit luftgetriebenen Turbinenhandstücken [1]. Jedoch sind auch Fälle beschrieben worden, bei denen allein das Einblasen von Luft bei Abwesenheit größerer Eintrittsverletzungen ein Weichteilemphysem hervorrief [2] [4]. Die Eintrittspforte ist in letzteren Fällen oft kaum nachzuweisen. Beschrieben werden minimale Schleimhautläsionen [4], jedoch wird auch eine Separation oder Perforation von eventuell vorgeschädigtem Epithel in den Wurzeltaschen diskutiert [2]. Dass bereits minimale Schleimhautläsionen bei entsprechend hohem Luftdruck zu ausgedehnten Emphysemen führen können, wird durch immer wieder beschriebene Autoaggressionsfälle illustriert [5].

Differentialdiagnostisch sind zu bedenken allergische Reaktionen, Hämatome und Entzündungen. Während eine Entzündung sich bereits mit Hilfe der Anamnese (schlagartiges Entstehen der Schwellung) als wenig wahrscheinlich einordnen lässt, sind allergische Reaktionen und Blutungen immer in Betracht zu ziehen. Auf generalisierte allergische Erscheinungen (Juckreiz, Schwellungen, Blutdruckabfall) sollte geachtet werden. Bei Blutungen (etwa durch die zunächst unbemerkt gebliebene Verletzung eines größeren Gefäßes) kann es zu Pulsieren der beobachteten Schwellung kommen [4] und im weiteren Verlauf zu deren Verfärbung.

Richtungweisend für das Emphysem schließlich ist das charakteristische Papierknistern über der Schwellung; die Luft selbst kann radiologisch (Weichteilaufnahmen, CT) oder sonographisch dargestellt werden.

Die in der Literatur beschriebenen Fälle berichten überwiegend von komplikationslosen Verläufen, wobei jedoch auf mögliche schwere Begleiterscheinungen etwa durch fortgesetzte Luftinsufflationen [3] sowie mögliche Infektbahnungen entlang des Emphysems hingewiesen wird [2]. Die Patienten sind deshalb darauf hinzuweisen, dass in der akuten Phase intraorale Drucksteigerungen zu vermeiden sind. In den beschriebenen Fällen wurden die Patienten überwiegend mit Antibiose prophylaktisch abgedeckt und es kam im Laufe von 1 - 2 Wochen zur spontanen Resorption des Emphysems.

Verlauf

Es erfolgte die umgehende stationäre Aufnahme und breitbandige antibiotische Abdeckung mit Aminopenicillin, Gyrasehemmer und Metronidazol. Die Wangenschwellung war rasch rückläufig, weitere Atemnotepisoden traten nicht auf. Mediastinitiszeichen wurden nicht beobachtet, das Blutbild war im Verlauf unauffällig. Das zahnärztliche Röntgen ergab außer einer apikalen Aufhellung am Zahn 25 keine Auffälligkeiten. Am siebten Tag konnte die Patientin bei klinisch nicht mehr nachweisbarem Emphysem aus der stationären Behandlung entlassen werden. Eine ambulante Kontrolluntersuchung eine Woche später ergab einen unauffälligen Befund.

Abb. 1Foto der Patientin am Morgen nach der stationären Aufnahme. Man erkennt eine linksbetonte Gesichtsschwellung. Abb. 2Ultraschallbild des Weichteilemphysems. Man erkennt verstreute Schallauslöschungen im subkutanen Gewebe. Abb. 3Computertomographische Darstellung des Weichteilemphysems im Gesichtsbereich. Die Luftblasen sind deutlich zu erkennen.

Literatur

  • 01 Horowitz I, Hirshberg A, Freedman A. Pneumomediastinum and subcutaneous emphysema following surgical extraction of mandibular third molars: Three case reports.  Oral Surg. 1987;  63 25-28
  • 02 McClendon J, Hooper W C, Houston D DS. Cervicofacial emphysema after air blown into a peridontal pocket: a case report.  JADA. 1961;  63 810-812
  • 03 Oikarinen K, Pekkarinen R, Piirainen J, Mäkäräinen H. Subcutaneous emphysema after surgical removal of a mandibular third molar.  Dento-max-fac Radiol. 1990;  19 84-86
  • 04 Spaulding C R. Soft tissue emphysema.  JADA. 1979;  98 587-588
  • 05 Tomczak R, Rieber A, Zeitler H, Brambs H J. Faziales und orbitales Weichteilemphysem.  Radiologie. 1996;  36 843-844
  • 06 Turnbull A. Remarkable coincidence in dental surgery.  Brit Med J. 1900;  1 1131
  • 07 Zamfirov D. Radiological appearance of facial soft tissue air emphysema.  Dento-max-fac Radiol. 1997;  26 256

Dr. J. Neuburger

Medizinische Hochschule Hannover Klinik für Hals-Nasen-Ohrenkrankheiten

Carl-Neuberg-Straße 1 30625 Hannover

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