Laryngorhinootologie 2000; 79(12): 806-807
DOI: 10.1055/s-2000-9143
AKTUELLE HABILITATION
Georg Thieme Verlag Stuttgart ·New York

Funktionseinschränkungen äußerer Haarzellen durch Lärmeinwirkung und deren Nachweis durch Messung von Distorsionsprodukt-emissionen (DPOAE)

 J. Oeken
  • Leipzig
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

Reversible und irreversible Funktionseinschränkungen der äußeren Haarzellen aufgrund von Lärmeinwirkungen können mittels DPOAE-Messung nachgewiesen werden. Ziel der Arbeit sollte der Nachweis der klinischen Anwendbarkeit der DPOAE bei Lärmschäden des Innenohres sein, besonders bei der Begutachtung von Lärmschwerhörigen.

Bei der Untersuchung zum temporären Hörschwellenschwund (temporary threshold shift = TTS) zeigte sich an 102 Ohren von 59 normalhörenden Probanden nach Lärmexposition von 20 min „weißem Rauschen” (90 dB) hochsignifikant ein Abfall der DP-Amplituden im Bereich von 1,5 bis 6 kHz. Das Ausmaß der DP-Amplitudenreduktion war aber mit den von uns gewählten Messparametern gering, offensichtlich bleibt trotz einer TTS der cochleäre Verstärker funktionstüchtig, was der Lärmprotektionshypothese entspräche. Eine Korrelation zwischen der TTS im Reintonaudiogramm und dem Ausmaß der DP-Amplitudenreduktion bestand nicht, so dass die DPOAE bei dynamischen Prozessen eher eine globale Aussage über die Funktionsfähigkeit des cochleären Verstärkers zulassen, ihre Frequenzspezifität dem Reintonaudiogramm jedoch unterlegen ist. Das unterschiedliche Ausmaß des DP-Amplitudenabfalles würden wir nicht mit dem Auftreten verschieden vulnerabler Innenohre in Verbindung bringen, da die Möglichkeit messtechnischer Abweichungen zu groß ist. In der halbstündigen Erholungsphase nach Lärmexposition entwickelten sich die DP-Amplituden im Einzelfall sehr variabel mit einer Tendenz zum kontinuierlichen Wiederanstieg der Amplituden.

In engem Zusammenhang dazu standen die DPOAE-Messungen an 24 Ohren bei 17 Patienten mit akutem akustischem Trauma (Knalltraumen und akute Lärmtraumen). Es war auffällig, dass in allen Fällen, in denen nach dem akuten Ereignis DPOAE im betroffenen Frequenzbereich vorhanden waren, auch eine vollständige Erholung des Hörvermögens eintrat. Waren DPOAE über einen breiten Frequenzbereich vollständig verschwunden, bestand eine persistierende Hörstörung, war nur ein schmaler Frequenzbereich betroffen, blieb die prognostische Aussage unsicher. Beim statistischen Vergleich der Signal-Rausch-Differenzen im DP-Gram zwischen den Ausgangsbefunden der regredienten (n = 13) und den persistierenden Fällen (n = 11) zeigte sich ein hochsignifikanter Unterschied im Frequenzbereich von 3 bis 6 kHz. Wir schlussfolgern, dass die DPOAE-Messung in der Klinik bei akuten Lärmschäden mit gewissen Einschränkungen eine prognostische Aussage zulässt, zumindestens in der Weise, dass bei Vorhandensein von deutlichen DPOAE im betroffenen Frequenzbereich eine Remission mit hoher Wahrscheinlichkeit auftritt. Von besonderem Wert halten wir die DPOAE-Messung bei der Untersuchung chronischer Lärmschäden. Hier handelt es sich im Gegensatz zu den akuten Einwirkungen um einen stationären, statischen Zustand, der eine ausgezeichnete Aussage über den cochleären Funktionszustand mittels DPOAE zulässt. An 248 hörgeschädigten Ohren (berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit) ließ sich nachweisen, dass bei leichten Fällen (27 Ohren von 15 Personen) die DPOAE auch im Hochtonbereich noch vorhanden sind und nur eine Amplitudenreduktion in den mittleren Frequenzen nachweisbar ist, bei den mittelgradigen (= typischen) Fällen (115 Ohren von 65 Personen) die DPOAE im Hochtonbereich verschwinden, während sie im Tieftonbereich noch nachweisbar sind und bei den schweren Fällen (106 Ohren von 62 Personen) schließlich im gesamten Frequenzbereich keine DPOAE mehr nachweisbar sind. Dies erlaubt einen Einsatz der DPOAE im Rahmen der Begutachtung beruflicher Lärmschwerhörigkeiten. Durch Vergleich des DP-Grams mit dem Reintonaudiogramm lässt sich eine topodiagnostische Aussage treffen, die den Anforderungen an die Begutachtung in besonderem Maße entspricht, da eine Aussage über den Funktionszustand der Cochlea unabhängig von der Funktion der afferenten Neurone möglich ist. Außerdem wird bei ausreichender Auflösung die gesamte Basilarmembran überprüft und nicht nur einzelne Frequenzabschnitte untersucht, wie das bei verschiedenen überschwelligen Tests (z. B. SISI-Test) der Fall ist. Beim Vergleich der topodiagnostischen Aussage im SISI-Test und mit Hilfe der DPOAE-Messung konnte bei insgesamt 273 Messungen von 115 lärmschwerhörigen Personen eine statistisch hochsignifikante Beziehung nachgewiesen werden. Eine völlige Übereinstimmung bestand in 171 Messungen (= 62,6 %), entgegengesetzte oder unklare Ergebnisse wurden bei 102 Messungen (= 37,4 %) ermittelt. Bei den widersprüchlichen Ergebnissen zeigte der SISI-Test häufiger ein falsch-retrocochleäres Ergebnis als die topodiagnostische Aussage mit Hilfe der DPOAE-Messung an. Durch den Einsatz der DPOAE-Messung könnte man also die Durchführung überschwelliger Tests und sonstiger objektiver Testverfahren auf ein Minimum beschränken. Dies ist von großer praktischer Relevanz und sollte ins „Königsteiner Merkblatt” aufgenommen werden.

Die Problematik des Einflusses der Presbyakusis auf die DPOAE und damit auf die DPOAE-Messung bei Lärmschwerhörigen höheren Alters konnte an 180 Ohren von 96 normalhörenden Personen in etwa sechs gleich großen Altersgruppen entsprechend der Lebensdekaden geklärt werden. Mit fortschreitendem Lebensalter findet tatsächlich ein Absinken der DP-Amplituden über das gesamte Frequenzspektrum statt. Dabei spielen vor allem der Schwellenanstieg im Reintonaudiogramm aber auch zusätzliche unabhängige Altersfaktoren (z. B. Sklerosierung der Mittelohrstrukturen) eine Rolle. Bis zum 70. Lebensjahr bestehen jedoch noch deutliche DP-Amplituden über den gesamten Frequenzbereich. Beim Vergleich zwischen gleichaltrigen Normalhörenden und Lärmgeschädigten ließen sich bis zum 70. Lebensjahr signifikante Unterschiede in den Signal-Rausch-Differenzen der DPOAE nachweisen, so dass sich bis zu diesem Alter die DPOAE in der Begutachtung einsetzen lassen, ohne dass die Interferenz mit der Presbyakusis zu Fehlaussagen führt.

In einer zusätzlichen Zwillingsstudie wurde versucht zu klären, ob das Konzept der Soziakusis als Erklärungsmodell für die Presbyakusis zutreffend ist, dass also die akustischen Mikrotraumen eines Lebens den entscheidenden Einfluss haben. Dies konnten wir jedoch nicht bestätigen. Sowohl die Messung des Reintonaudiogramms als auch der DPOAE ergaben signifikante Unterschiede im Mittel- und Hochtonbereich zwischen den eineiigen Zwillingen und einer Kontrollgruppe („statistischen” Zwillinge), so dass offensichtlich genetische Faktoren einen größeren Einfluss als exogene Faktoren zu haben scheinen.

PD Dr. med. habil. Jens Oeken

Universitäts-HNO-Klinik

Liebigstraße 18 a 04103 Leipzig

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