Fortschr Neurol Psychiatr 1985; 53(5): 177-184
DOI: 10.1055/s-2007-1001965
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Öffentlichkeit und ,,reine Lehre" in der Psychiatriegeschichte*

The General Public, Public Control, and ''Purism'' of Ideology in the History of PsychiatryK.  Heinrich * Prof. Hanns Hippius zum 60. Geburtstag freundschaftlich gewidmet.
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Publication Date:
10 January 2008 (online)

Abstract

Psychiatry has always been influenced by the "Zeitgeist" of the epoch. Due to the supernatural aura surrounding mental disease, the lack of a sufficient biological basis, and the capacity to reduce civil rights of individuals, psychiatry occupies a special position among the medical disciplines. The dependence of psychiatry on the dominating ideas of epochs are analysed for the 18th century and the Nationalsocialist era in Germany 1933-1945. Both epochs are characterised by strictly defined ideologies. It can be demonstrated that puristic ideologies tend to be inhumane. Psychiatry needs constant public control; wherever this is not possible, for political reasons, human right of the mentally ill are not preserved. During the 17th and 18th century, English psychiatry on the whole was leading in respect to humane methods of treatment, because there was parlamentary and public control. Public resistance, especially by the churches, forced Hitler to halt the so-called euthanasy programme. Even under the conditions of dictatorial rule, control was effective to some extent.

Zusammenfassung

Die Psychiatrie wird in ganz besonderer Weise von den herrschenden Ideen einer Epoche beeinflußt. Unter den medizinischen Fächern hat sie eine Sonderstellung, die auf das noch immer mit der Geisteskrankheit verbundene Numinosum, auf das Fehlen einer verläßlichen naturwissenschaftlichen Basis und auf die gesetzlich verordnete freiheitsbeschränkende Kompetenz der Psychiatrie zurückzuführen ist.

Anhand einer psychiatriehistorischen Untersuchung zweier Epochen, der Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert und der Zeit des Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945, wird die Abhängigkeit der Psychiatrie vom Zeitgeist beschrieben. Beide Epochen werden durch deutlich formulierte und konsequent in die Praxis umgesetzte ideologische Leitgedanken gekennzeichnet. Schon vor der Aufklärung wirkte sich die Kontrolle von öffentlichen und privaten Einrichtungen durch eine politisch organisierte Öffentlichkeit in England auf eine humanitäre Betreuung von psychisch Kranken förderlich aus. In Kontinentaleuropa entsprach dem Fehlen einer solchen kritischen Öffentlichkeit eine durchschnittlich wesentlich schlechtere Situation der Geisteskranken und geistig Behinderten. Die philanthropischen Leitgedanken der Aufklärung bewirkten, daß die psychisch Kranken rigoros vernünftigen Ordnungsprinzipien unterworfen wurden, wobei auch auf Strafen unmenschlicher Art nicht verzichtet wurde. Der Nationalsozialismus übertraf die in verschiedenen historischen Epochen bei psychisch Kranken begangenen Unmenschlichkeiten bei weitem. Insgesamt sind etwa 100 000 Kranke den sog. Gnadentodaktionen zum Opfer gefallen. Öffentlich erhobene Proteste seitens der Kirchen und auch aus der Bevölkerung führten schließlich zur Einstellung der Hauptaktionen. Bei aller Würdigung grundlegender Unterschiede der beiden untersuchten Epochen läßt sich erkennen, daß ,,reine Lehren" eine humanitäre Psychiatriepraxis bedrohen und daß eine wirksame kritische Öffentlichkeit auf die Psychiatrie humanisierend wirkt.

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