RSS-Feed abonnieren
DOI: 10.1055/a-2168-4553
Ein Virus und seine Folgen: COVID-19 und Long Covid – ein hybrides Krankheitsmodell
A virus and its consequences: COVID-19 and Long Covid – A hybrid disease modelAuthors

Long Covid/Post Covid (LC/PC) ist seit Beginn der Covid-19-Pandemie eine Krankheit, die anhaltend zu zahlreichen Diskussionen Anlass gibt [1]. Obwohl mehr oder weniger identische Symptome auch schon bei früheren Epidemien in einem ähnlichen Umfang aufgetreten sind [2], bezweifelten viele klinisch Tätige und politisch Verantwortliche anfänglich die Existenz von LC/PC. Zeitgleich wurden jedoch auch die Gegenpositionen durch Betroffeneninitiativen und durch sie angeregte Forschungsprojekte kommuniziert [3]. Heute, mehr als drei Jahre nach dem Bekanntwerden der SARS-Cov-2-Problematik, leiden zahlreiche Menschen an den Folgen der Infektion. Fehlende Biomarker stellen jedoch weiterhin eine Herausforderung für das Erkennen und den Umgang mit dem potentiellen Multisystembefall dar. Aktuelle Übersichtsarbeiten liefern Evidenzen für die Problematik, die mit LC/PC einhergeht und den daraus ableitbaren Handlungsbedarf [4]. Das zentrale Nervensystem betreffend werden häufig Gedächtnis- und Exekutivfunktionsstörungen, Depressionen, Angstzustände und Unwohlsein nach Anstrengung geschildert. Dominierende Merkmale sind häufig postexertionelle Malaise (Belastungsintoleranz), Fatigue, ‚Brain Fog‘ (neurokognitive Beeinträchtigungen), Schwindel sowie gastrointestinale Symptome [5]. Gemäß neueren epidemiologischen Daten aus der Schweiz leiden 17 Prozent der im Jahr 2020 infizierten Personen noch zwei Jahre später unter LC/PC-Symptomen [6]. Damit einher geht eine hohe Rate von Arbeitsunfähigkeiten und eine teils erheblich verminderte Arbeitsfähigkeit [7].
In jüngerer Zeit hingegen dreht sich die Diskussion um die Frage, ob und inwieweit psychologische Mechanismen und vorgängige psychische Probleme für das Leiden der Betroffenen (mit)verantwortlich sind [8]. Von Betroffeneninitiativen und vereinzelt von Forschenden werden ausschließlich die biologischen Ursachen für die LC/PC-Symptome angenommen. Aktuell werden interessanterweise sowohl rein biologische Mechanismen für kognitive und affektive Probleme verantwortlich gemacht [9] wie auch die psychosomatische Sichtweise erneut favorisiert [10].
Bis heute bleibt LC/PC daher aus wissenschaftlicher Sicht eine ‚moderne medizinische Herausforderung‘ wie es ein schon ein im Jahr 2021 erschienenes Editorial im Lancet formuliert hat [11]. Die Herausforderung besteht aus mehreren miteinander verbundenen Themen, insbesondere der Heterogenität der Phänotypen, der Vielzahl potentieller pathophysiologischer Mechanismen und der anhaltenden Suche nach spezifischen Behandlungs- und Rehabilitationsprogrammen.
Eine zentrale Schwierigkeit ist das Fehlen eines Modells, das in der Lage ist, sowohl die Vielfalt der pathophysiologischen Mechanismen als auch die Leidenserfahrung von Betroffenen zu integrieren, ohne dass die physiologischen und psychologischen Mechanismen im Einzelnen geklärt sind. Ein solches Modell könnte als Grundlage für ein besseres Verständnis der Erkrankung sowie für die Entwicklung von Behandlungs- und Unterstützungsstrategien. Im Folgenden schlagen wir ein Modell vor, das auf neurowissenschaftlichen und wissenschaftsphilosophischen Prinzipien basiert und versucht, die ‘Realität’ umstrittener Krankheiten zu erfassen. Wir empfehlen, LC/PC als eine Hybriderkrankung zu betrachten, bei der Pathophysiologie und Krankheitserfahrung nicht vollständig kausal miteinander verbunden sind und daher auf teilweise unterschiedliche Entstehungswege zurückzuführen sein können.
Publikationsverlauf
Artikel online veröffentlicht:
11. Oktober 2023
© 2023. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart,
Germany
-
Literatur
- 1 Yong E. Covid-19 can last for several months. In: The Atlantic. 2020. https://www.theatlantic.com/health/archive/2020/06/covid-19-coronavirus-longterm-symptoms-months/612679/ (Zugriff: 05.09.2023)
- 2 Zürcher SJ, Banzer C, Adamus C. et al. Post-viral mental health sequelae in infected persons associated with COVID-19 and previous epidemics and pandemics: Systematic review and meta-analysis of prevalence estimates. J Infect Public Health 2022; 15: 599-608
- 3 McCorkell L, Assaf GS, Davis HE. et al. Patient-Led Research Collaborative: embedding patients in the Long COVID narrative. Pain Rep 2021; 6: e913
- 4 Parotto M, Gyöngyösi M, Howe K. et al. Post-acute sequelae of COVID-19: understanding and addressing the burden of multisystem manifestations. Lancet Respir Med 2023; 11: 739-754
- 5 Thaweethai T, Jolley SE, Karlson EW. et al. Development of a Definition of Postacute Sequelae of SARS-CoV-2 Infection. JAMA 2023; 329: 1934-1946
- 6 Ballouz T, Menges D, Anagnostopoulos A. et al. Recovery and symptom trajectories up to two years after SARS-CoV-2 infection: population based, longitudinal cohort study. BMJ (Clinical research ed) 2023; 381: e074425
- 7 Kerksieck P, Ballouz T, Haile SR. et al. Post COVID-19 condition, work ability and occupational changes in a population-based cohort. Lancet Reg Health Eur 2023; 100671
- 8 Erbguth F, Förstl H, Kleinschnitz C. Long COVID und die Psycho-Ecke: Wiedergeburt eines reduktionistischen Krankheitsverständnisses. Dtsch Arztebl 2023; 120: A-674 / B-574
- 9 Braga J, Lepra M, Kish SJ. et al. Neuroinflammation After COVID-19 With Persistent Depressive and Cognitive Symptoms. JAMA Psychiatry 2023;
- 10 Lemogne C, Gouraud C, Pitron V. et al. Why the hypothesis of psychological mechanisms in long COVID is worth considering. J Psychosom Res 2023; 165: 111135
- 11 Lancet. Understanding long COVID: a modern medical challenge. Lancet 2021; 398: 725
- 12 Quinn Schone H. Contested Illness in Context: An Interdisciplinary Study in Disease Definition. London: Routledge; 2019
- 13 Barrett LF. The theory of constructed emotion: an active inference account of interoception and categorization. Soc Cogn Affect Neurosci 2017; 12: 1-23
- 14 Chen WG, Schloesser D, Arensdorf AM. et al. The Emerging Science of Interoception: Sensing, Integrating, Interpreting, and Regulating Signals within the Self. Trends Neurosci 2021; 44: 3-16
- 15 Lopez-Leon S, Wegman-Ostrosky T, Perelman C. et al. More than 50 long-term effects of COVID-19: a systematic review and meta-analysis. Sci Rep 2021; 11: 16144
- 16 Gonzalez Campo C, Salamone PC, Rodríguez-Arriagada N. et al. Fatigue in multiple sclerosis is associated with multimodal interoceptive abnormalities. Mult Scler 2020; 26: 1845-1853
- 17 Schaffner AK. Exhaustion – A History. New York: Columbia UP. 2016
- 18 Hacking I. The Social Construction of What? . Cambridge, Mass; Harvard UP: 1999
- 19 Shorter E. From paralysis to fatigue: A history of psychosomatic medicine in the Modern Era. New York: Free Press; 1992
- 20 Polack FP, Thomas SJ, Kitchin N. et al. Safety and Efficacy of the BNT162b2 mRNA Covid-19 Vaccine. N Engl J Med 2020; 383: 2603-2615
- 21 Iwasaki A, Putrino D. Why we need a deeper understanding of the pathophysiology of long COVID. Lancet Infect Dis 2023; 23: 393-395
- 22 Saunders C, Sperling S, Bendstrup E. A new paradigm is needed to explain long COVID. Lancet Respir Med 2023; 11: e12-e13
- 23 Blease C, Carel H, Geraghty K. Epistemic injustice in healthcare encounters: evidence from chronic fatigue syndrome. J Med Ethics 2017; 43: 549-557