Psychiatr Prax 2023; 50(07): 341-343
DOI: 10.1055/a-2168-4553
Editorial

Ein Virus und seine Folgen: COVID-19 und Long Covid – ein hybrides Krankheitsmodell

A virus and its consequences: COVID-19 and Long Covid – A hybrid disease model

Authors

  • Dirk Richter

    1   Departement Gesundheit, Berner Fachhochschule, Zentrum Psychiatrische Rehabilitation, Universitäre Psychiatrische Dienste Bern, Schweiz
  • Anastasia Theodoridou

    2   Psychiatrie Baselland, Liestal, Schweiz, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Schweiz
Preview

Long Covid/Post Covid (LC/PC) ist seit Beginn der Covid-19-Pandemie eine Krankheit, die anhaltend zu zahlreichen Diskussionen Anlass gibt [1]. Obwohl mehr oder weniger identische Symptome auch schon bei früheren Epidemien in einem ähnlichen Umfang aufgetreten sind [2], bezweifelten viele klinisch Tätige und politisch Verantwortliche anfänglich die Existenz von LC/PC. Zeitgleich wurden jedoch auch die Gegenpositionen durch Betroffeneninitiativen und durch sie angeregte Forschungsprojekte kommuniziert [3]. Heute, mehr als drei Jahre nach dem Bekanntwerden der SARS-Cov-2-Problematik, leiden zahlreiche Menschen an den Folgen der Infektion. Fehlende Biomarker stellen jedoch weiterhin eine Herausforderung für das Erkennen und den Umgang mit dem potentiellen Multisystembefall dar. Aktuelle Übersichtsarbeiten liefern Evidenzen für die Problematik, die mit LC/PC einhergeht und den daraus ableitbaren Handlungsbedarf [4]. Das zentrale Nervensystem betreffend werden häufig Gedächtnis- und Exekutivfunktionsstörungen, Depressionen, Angstzustände und Unwohlsein nach Anstrengung geschildert. Dominierende Merkmale sind häufig postexertionelle Malaise (Belastungsintoleranz), Fatigue, ‚Brain Fog‘ (neurokognitive Beeinträchtigungen), Schwindel sowie gastrointestinale Symptome [5]. Gemäß neueren epidemiologischen Daten aus der Schweiz leiden 17 Prozent der im Jahr 2020 infizierten Personen noch zwei Jahre später unter LC/PC-Symptomen [6]. Damit einher geht eine hohe Rate von Arbeitsunfähigkeiten und eine teils erheblich verminderte Arbeitsfähigkeit [7].

In jüngerer Zeit hingegen dreht sich die Diskussion um die Frage, ob und inwieweit psychologische Mechanismen und vorgängige psychische Probleme für das Leiden der Betroffenen (mit)verantwortlich sind [8]. Von Betroffeneninitiativen und vereinzelt von Forschenden werden ausschließlich die biologischen Ursachen für die LC/PC-Symptome angenommen. Aktuell werden interessanterweise sowohl rein biologische Mechanismen für kognitive und affektive Probleme verantwortlich gemacht [9] wie auch die psychosomatische Sichtweise erneut favorisiert [10].

Bis heute bleibt LC/PC daher aus wissenschaftlicher Sicht eine ‚moderne medizinische Herausforderung‘ wie es ein schon ein im Jahr 2021 erschienenes Editorial im Lancet formuliert hat [11]. Die Herausforderung besteht aus mehreren miteinander verbundenen Themen, insbesondere der Heterogenität der Phänotypen, der Vielzahl potentieller pathophysiologischer Mechanismen und der anhaltenden Suche nach spezifischen Behandlungs- und Rehabilitationsprogrammen.

Eine zentrale Schwierigkeit ist das Fehlen eines Modells, das in der Lage ist, sowohl die Vielfalt der pathophysiologischen Mechanismen als auch die Leidenserfahrung von Betroffenen zu integrieren, ohne dass die physiologischen und psychologischen Mechanismen im Einzelnen geklärt sind. Ein solches Modell könnte als Grundlage für ein besseres Verständnis der Erkrankung sowie für die Entwicklung von Behandlungs- und Unterstützungsstrategien. Im Folgenden schlagen wir ein Modell vor, das auf neurowissenschaftlichen und wissenschaftsphilosophischen Prinzipien basiert und versucht, die ‘Realität’ umstrittener Krankheiten zu erfassen. Wir empfehlen, LC/PC als eine Hybriderkrankung zu betrachten, bei der Pathophysiologie und Krankheitserfahrung nicht vollständig kausal miteinander verbunden sind und daher auf teilweise unterschiedliche Entstehungswege zurückzuführen sein können.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
11. Oktober 2023

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