Zahnmedizin up2date 2011; 5(4): 323-340
DOI: 10.1055/s-0031-1280077
Zahnerhaltung, Prävention und Restauration

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kariesinfiltration

Hendrik Meyer-Lückel, Sebastian Paris
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Publikationsdatum:
31. August 2011 (online)

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Paradigmenwechsel in der Kariologie

Unter dem Begriff Karies subsumiert man die Zeichen und Symptome, die aufgrund einer lokalisierten chemischen Auflösung der Zahnsubstanz, bedingt durch metabolische Prozesse des dentalen Biofilms, auftreten [1]. Die Veränderungen der Zahnhartsubstanz, die als Karies bezeichnet werden, spiegeln folglich die Aktivität des Biofilms wider.

Merke: Deshalb sollte bei der Erhaltung der Zahngesundheit eine positive Beeinflussung der Interaktion zwischen Biofilm und Zahn im Vordergrund der Bemühungen stehen.

Eine rein dichotome Betrachtungsweise der Erkrankung, wonach man alleinig gesunde und unheilbar erkrankte (= kavitierte) Zähne oder Zahnflächen unterschied, wurde zusehends verlassen. Neben der Ausdehnung und der Oberflächenbeschaffenheit wurde die sog. Aktivitätsbeurteilung einer Karies anhand von weiteren Läsionscharakteristika zur Abwägung der Wahrscheinlichkeit des Voranschreitens einer Karies als weiteres Kriterium zur Kariesbeurteilung vorgeschlagen [2] (Abb. [1]):

Abb. 1 a bis ea, b Die 26-jährige Patientin zeigt unter anderem an den Zähnen 24 mesial/distal und 25 mesial sowie 45 distal 4 approximale Läsionen, die röntgenologisch bis in das Dentin extendiert sind. c Klinisch ist nur die Läsion an 24 mesial sichtbar kavitiert. d Die unkavitierte, aber aktive kariöse Läsion an Zahn 25 mesial (weißlich bis bräunlich/opak/rau bei Sondierung) ist nach Präparation der Kavität 24 distal (auch diese Karies war unkavitiert) deutlich sichtbar. e Die Oberfläche an Zahn 45 distal (glatt/bei Sondierung, eher glänzend) wirkt bei klinischer Betrachtung inaktiv.

Farbe, Opazität, Rauigkeit beim Sondieren, Plaquebesiedelungsfrequenz.

Von Drill and fill …

Die klassische invasive Kariestherapie basiert auf der Kavitätenlehre nach Black [3], die gerne mit dem Begriff „extension for prevention“ umschrieben wird. Hierbei wurde darauf abgezielt, unter Einhaltung klassischer Präparationsregeln eine Kavität zu präparieren, die genügend Retention für die damals zur Verfügung stehenden Materialien (z. B. Zemente, Amalgam und Gold) aufwies. Die Ränder der Restauration sollten in Bereichen des Zahnes liegen, die für die Mundhygiene gut zugänglich sind, um die Ausbildung von Randkaries zu verhindern. Dies bedeutete, dass okklusal alle Fissuren einbezogen sowie approximal die Kästen sehr weit extendiert werden sollten. Darüber hinaus sollte infektiöses Dentin möglichst vollständig entfernt werden, um hiernach auf hartem, vermeintlich bakterienfreien Dentin eine Restauration anzufertigen.

Cave: Die Einhaltung der Black'schen Regeln zur Kavitätenpräparation führt dazu, dass bereits bei der Erstversorgung eines kariösen Zahnes weite Teile des Schmelzes präpariert werden müssen.

Diese Philosophie resultiert in einer restaurativ ausgerichteten Behandlungsstrategie, die hohe Kosten, Schmerzen und epidemiologisch gesehen einen hohen DMFT-Wert zur Folge hat. Dieses Paradigma kann mit dem Anglizismus „drill and fill“ umschrieben werden. Doch ist für eine erfolgreiche Kontrolle des Kariesprozesses eine vollständige Eliminierung aller klinischen und röntgenologischen Anzeichen einer Karies, also auch von Frühstadien des Kariesprozesses, überhaupt notwendig?

… zu Heal and seal

Heutzutage geht man geht davon aus, dass der Kariesprozess aufgehalten werden kann, wenn Karies begünstigende Faktoren reduziert werden, sei es durch noninvasive, invasive oder aber auch mikroinvasive Maßnahmen.

Non-invasiv Hinsichtlich der Progressionsgeschwindigkeit der Approximalkaries konnte gezeigt werden, dass die Etablierung einer röntgenologisch detektierbaren Dentinkaries in den meisten Fällen mehrere Jahre bis sogar ein Jahrzehnt dauert 4 (Abb. 2), sodass ein ausreichendes Zeitfenster für einen rechtzeitigen invasiven Therapieentscheid besteht. Bei guter Zugänglichkeit der Zahnfläche und gegebener Adhärenz/Compliance des Patienten sind sowohl kariöse Schmelz- als auch Dentinläsionen (Wurzelkaries) durch rein noninvasive Maßnahmen arretierbar. Deren Auswahl und die Frequenz der Anwendung sollte sich am Kariesrisiko des Patienten orientieren. Die Wahrscheinlichkeit der Arretierung einer kariösen Läsion durch alleinige non-invasive Maßnahmen nimmt allerdings mit Zunahme der Kariesausdehnung ab. Entsprechend zeigt eine kariöse Läsion vor allem dann eine zunehmende Progressionstendenz, wenn diese eine meist auch klinisch feststellbare Kavitation aufweist 5, da in diesem Bereich eine für die Mikroorganismen günstige Milieuänderung stattfindet (Abb. 3). Vergleichbare kariesfördernde Bedingungen bestehen auch in tiefen Fissuren und Grübchen sowie Randspalten von Restaurationen. Abb. 2 Von Karies betroffene gesunde approximale Flächen bei schwedischen Jugendlichen bildeten zu 50 % (Median) innerhalb von 6 Jahren eine röntgenologisch sichtbare Karies bis in die innere Schmelzhälfte aus. Die medianen Progressionszeiten von kariösen Läsionen, die bis in die innere Schmelzhälfte (E2) oder bis zur Schmelz-Dentin-Grenze (EDJ) extendiert waren bis jeweils in das äußere Dentindrittel (D1), betrugen ca. 5 bzw. 3 Jahre 4. Abb. 3 Nach Präparation des Nachbarzahns zur Insertion einer Füllung sieht man deutlich eine klinisch relevante Kavitation der angrenzenden Appoximalfläche. Die verbliebenen kariösen Schmelzanteile können infiltriert werden, die Kavitation wird hierdurch aber nicht aufgefüllt. Merke: Nicht nur die noninvasiven, sondern auch die invasiven Interventionen zur Behandlung der Karies und ihrer Folgen (Restauration) sollten primär darauf abzielen, ein für die Mikroorganismen günstiges orales Milieu zu beseitigen und dessen erneutes Auftreten nachhaltig zu verhindern. Invasiv Die seit einigen Jahrzehnten erhältlichen adhäsiven Füllungsmaterialien und -techniken erlauben eine substanzschonendere invasive Versorgung der Karies. Das Paradigma der vollständigen Entfernung des infektiösen Dentins ist jedoch noch weit verbreitet, obwohl es zunehmend zweifelhaft ist, ob eine vollständige Bakterienentfernung möglich bzw. überhaupt nötig ist – insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass bei einer radikalen Kariesexkavation eine erhöhte Gefahr der Pulpaeröffnung besteht 6. Bei der adhäsiven Füllungstherapie wird die Substratzufuhr zu tiefer liegenden Mikroorganismen innerhalb der Kavität gehemmt; weiteren Mikroorganismen bleibt der Zugang versperrt, verbliebene werden eingeschlossen. Gleichzeitig wird dem Patienten durch die therapeutische Maßnahme die Reinigung der entsprechenden Zahnfläche (wieder) ermöglicht. Somit ist der Einfluss des dentalen Biofilms als treibende Kraft des Kariesprozesses eingedämmt. Merke: Adhäsive Füllungstechnik bewirkt eine Hemmung der Substratzufuhr und verhindert den Zugang von neuen Mikroorganismen. Mikro-invasiv Bei der Versiegelung plaqueretentiver, okklusaler Zahnflächen mit erhöhtem Kariesrisiko wird ein ähnlicher Zustand erreicht. Neben gesunden Fissuren, v. a. während des Zahndurchbruchs, wird eine Versiegelung ebenso für initiale kariöse Läsionen empfohlen 7, 8. Nicht kavitierte kariöse Läsionen an Glatt- und Approximalflächen könnten prinzipiell auch versiegelt werden 9, 10, die Kariesinfiltration weist hierbei allerdings Vorteile gegenüber der Versiegelung auf 11, 12. Merke: Eine moderne kariologische Behandlungsphilosophie verfolgt das Ziel, Karies möglichst mit minimalintervenierenden Maßnahmen zu arretieren. Das Paradigma „heal and seal“ zur Behandlung von Karies beinhaltet: Durchführung noninvasiver Basismaßnahmen durch den Patienten, Anwendung risikoorientierter noninvasiver Maßnahmen (professionell oder eigenständig), Versiegelung von Okklusalflächen (gesund und kariös), approximale Kariesinfiltration, pulpaschonende Kariesexkavation, adhäsive Füllungsreparatur, minimalinvasive adhäsive Füllungstherapie.

Therapieentscheid

Insofern initiale kariöse Läsionen rechtzeitig detektiert werden, können diese durch rein noninvasive Maßnahmen beherrscht werden. Ab einem gewissen Zerstörungsgrad eines Zahnes überwiegt jedoch das Risiko (z. B. Zahnfrakturen) gegenüber dem zu erwartenden Nutzen bei rein noninvasiver, abwartender Herangehensweise (geringere Kosten, geringere Schmerzen). Dies bedeutet, dass bei weiterhin ausbleibendem invasiven Eingreifen die möglichen Folgeschäden größer sind als die durch die Behandlung zu erwartenden Nachteile. Wird die Insertion einer Restauration als notwendig angesehen, sollte man im Auge behalten, dass diese einer Alterung unterliegt. Daher müssen Restaurationen häufig nach einigen Jahren durch größere Versorgungen ausgetauscht werden [13]. Somit gerät der Zahn mit der 1. Füllung in eine Restaurationsspirale, welche nicht selten mit der Überkronung oder gar Extraktion des Zahnes endet.

Merke: Daher ist generell eine zeitliche Verschiebung der erstmaligen invasiven Therapie in ein höheres Lebensalter erstrebenswert.

Entscheidet man sich zur Restauration einer Primärkaries, sollten die positiven Aspekte (Erhöhung der Überlebenswahrscheinlichkeit des Zahnes, Erhaltung einer adäquaten Kaufunktion und Ästhetik) die negativen Aspekte einer invasiven Therapie (Opferung von gesunder Zahnhartsubstanz durch die Präparation einer Kavität, Kosten, Belastung durch Behandlung) überwiegen.

Eine Brücke zwischen noninvasiven und minimal-
invasiven Interventionen schlagen gewissermaßen versiegelnde oder infiltrierende Maßnahmen, bei denen nur sehr wenig Zahnhartsubstanz (z. B. bei der Vorbehandlung mit Säuren) geopfert werden muss. Hierfür wurde der Überbegriff mikroinvasive Therapie vorgeschlagen [14] (Abb. [4]).

Abb. 4 Therapieoptionen für die verschiedenen Stadien des Kariesprozesses bei approximalen Flächen. Versiegelung Bei der seit Langem etablierten okklusalen Versiegelung werden Materialien eingesetzt, die aus der adhäsiven Füllungstherapie bekannt sind. Nach Ätzung mit Phosphorsäure werden Fissurenversiegler aufgetragen und anschließend lichtgehärtet. Kariesinfiltration Bei der Kariesinfiltration wird zur Konditionierung der kariösen Zahnoberfläche eine vergleichsweise stärkere Säure (Salzsäure 15 %) benötigt und Kunststoffe mit einer modifizierten Monomerzusammensetzung, sog. Infiltranten, verwendet. Diese äußerst fließfähigen Kunststoffe können im Gegensatz zu Adhäsiven und Fissurenversieglern in die poröse Struktur des Läsionskörpers einer Karies eindringen. Hierdurch werden Diffusionswege für kariogene Säuren obturiert 14, 15 (Abb. 5). Abb. 5 a und b a Durch eine Versiegelung einer kariösen Läsion wird eine Diffusionsbarriere auf der Oberfläche etabliert. b Bei der Infiltration dringt ein niedrig visköser Kunststoff in die Porositäten des Läsionskörpers ein und wird dort lichtgehärtet. Hierdurch wird ein Eindringen von Säuren und von Substrat für Mikroorganismen verhindert. Merke: Bei der Kariesinfiltration wird im Gegensatz zur Kariesversiegelung die Diffusionsbarriere innerhalb der Karies selbst geschaffen.

Literatur

PD Dr. Hendrik Meyer-Lückel, MPH
Dr. Sebastian Paris

Klinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie
Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Arnold-Heller-Str. 3, Haus 26

24105 Kiel

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