Zusammenfassung
Die Anwendung moderner morphologischer Techniken kann dazu beitragen, die weitgehend
unbekannten neurobiologischen Mechanismen der Spastik zu eruieren. Nach Hemisektion
des unteren thorakalen Rückenmarkes bei Katzen und Ratten entwickeln sich motorische
Veränderungen, die Elemente der menschlichen Spastik enthalten. In diesem Artikel
werden morphologische Befunde über neuronale und gliale Reorganisationsvorgänge im
Rückenmark unterhalb der Hemisektion zusammengefaßt und deren mögliche Relevanz für
die Pathophysiologie der Spastik diskutiert.
Eine weitverbreitete und seit langem umstrittene Hypothese zur Erklärung der Spastik
postuliert eine Ausprossung segmentaler Afferenzen mit nachfolgender Reinnervation
partiell denervierter spinaler Interneurone, die den Motoneuronen vorgeschaltet sind.
Am Hemisektionsmodell konnte in immunhistochemischen Studien dieses Konzept unter
Verwendung von Antikörpern gegen das Protein B-50 (GAP-43), einem bewährten Marker
für axonales Aussprossen und Synaptogenese, nicht gestützt werden. Elektronenmikroskopisch
wurde an den partiell denervierten Interneuronen eine permanente Bedeckung der freigewordenen
postsynaptischen Stellen durch Astrozytenfortsätze beobachtet. Die nachgeschalteten
motorischen Vorderhornzellen zeigten an ihrer Oberfläche ausgeprägte strukturelle
Veränderungen der axosomatischen Boutons, die auf eine Funktionsstörung dieser überwiegend
inhibitorischen synaptischen Eingänge schließen lassen. Dadurch kann es zu einer Imbalance
mit funktionellem Überwiegen der exzitatorischen Synapsen kommen, die zur posttraumatisch
gesteigerten Erregbarkeit der Motoneurone und der damit assoziierten Hyperreflexie
beitragen kann. In weiteren Studien muß festgestellt werden, welche Neurotransmitter
und Rezeptoren an diesen synaptischen Veränderungen beteiligt sind und inwieweit diese
synaptische Plastizität für die Pathophysiologie der Spastik eine Rolle spielt. Ein
besseres Verständnis der zellulären und molekularen Vorgänge im läsionierten Rückenmark
kann zur Weiterentwicklung der kontrovers diskutierten Physio- und Pharmakotherapien
der Spastik beitragen.
Summary
Modern morphological techniques applied to animal experiments may help to elucidate
cellular mechanisms in the spinal cord which are involved in the pathophysiology of
spasticity. Changes in motor function following low thoracic spinal cord hemisection
in cats and rats reveal important components which also occur in human spasticity.
This article summarizes morphological observations on neuronal and glial reorganization
in the spinal cord caudal to hemisection and addresses some issues of the current
discussion on the neurobiology of spasticity.
A controversal hypothesis suggests that sprouting of dorsal root axons and subsequent
reinnervation of partially denervated spinal neurons contribute to the generation
of spasticity. This concept was not supported by our immunohistochemical studies in
the hemisection model, using antibodies against the neural-specific protein B-50/GAP-43,
a prominent marker for axonal sprouting and synaptogenesis. Vacant postsynaptic spaces
on spinal neurons caudal to hemisection appeared to be covered by astrocytic processes,
as revealed by electron microscopy.
However, on the surface of motoneurons distal to the lesion, structural changes were
observed in the predominantly inhibitory axosomatic synaptic boutons. This suggests
a lesion induced imbalance in synaptic input, with the disturbance of inhibitory synapses
and subsequent dominance of excitatory input. Such a hypothetical mechanism may contribute
to the well known increased excitability of motoneurons caudal to interruption of
supraspinal descending pathways. Further studies are required to identify the neurotransmitters
and receptors involved in this synaptic plasticity and to determine to what extent
these changes may contribute to the development of spasticity.