Z Sex Forsch 2018; 31(02): 191-209
DOI: 10.1055/a-0608-3283
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Publication Date:
27 June 2018 (online)

Barbara Paul und Lüder Tietz, Hrsg. Queer as… – Kritische Heteronormativitätsforschung aus interdisziplinärer Perspektive. Bielefeld: transcript 2016 (Reihe: Studien interdisziplinäre Geschlechterforschung, Bd. 9). 228 Seiten, EUR 29,99

Der Band eint Beiträge aus verschiedenen geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen, die aus ihrer jeweiligen Perspektive eine Analyse heteronormativitätskritischer oder queerer Praktiken vornehmen. Die Herausgebenden charakterisieren ihr Forschungsinteresse bezogen auf die „unterschiedlichen, grundlegend prozessualen Vorstellungen, Ideen und Wünsche[n] zu Geschlechtern, Sexualitäten und Begehren“ (S. 9) und verstehen den Band als aktuelle Positionsbestimmung in den Queer Studies.

Wie im Titel benannt, bilden „queer“ und „Heteronormativität“ die zentralen theoretischen und politischen Ansatzpunkte: Einleitend wird Bezug genommen auf die wechselhafte Bedeutungsgeschichte von „queer“ – von der Bezeichnung des Anormalen vor 300 Jahren, die zunehmend sexuell konnotiert wurde, bis hin zum seit den 1980er-Jahren (wieder) angeeigneten Begriff als stolze politische Eigenbezeichnung – und sein theoretisches Programm der Normativitätskritik. Damit einhergehend wird an die dezidierte Dekonstruktion starrer Identitäts- und Subjektvorstellungen und das Herausarbeiten von Offenheit, Widersprüchlich- und Brüchigkeiten erinnert. Heteronormativität als zweiter Bezugspunkt der Herausgeber_innen wird als Dispositiv begriffen, welches auf sozialen, kulturellen und juristischen Ebenen den Ausschluss nicht-heterosexueller und zweigeschlechtlicher Lebenswirklichkeiten regelt.

Die Autor_innen kündigen mit Verweis auf Foucault an, die übliche Hierarchisierung (queeren) praktisch hervorgebrachten Alltagswissens und akademischen Wissens kritisch zu reflektieren bzw. neu zu bestimmen, wobei sie eine Verzahnung der Generierung queeren Wissens und einem „denormalisierenden Umgang mit hegemonialen Wissensordnungen“ (S. 16) anstreben. Dies gelingt insbesondere bei den kunst- und performanzbezogenen Beiträgen recht gut, Fotos durchbrechen immer wieder die textlichen Erörterungen und würdigen die Wissensproduzent_innen der jeweiligen Szenen. Basierend auf einer universitären Vorlesungsreihe folgt die sprachliche Performanz der Beiträge oft den gewohnten akademischen (und hierarchisierenden) Praxen, auch wenn Versuche der Anschaulichmachung klar erkennbar sind. Das Spektrum klassischer und neuerer theoretischer Bezüge der Queer Studies, welches in den einzelnen Beiträgen genutzt wird, ist in jedem Fall reichhaltig.

Dem ersten Beitrag „Un/Möglichkeit queerer Politiken in Wissenschaft und Kunst – oder: Zum Umgang mit visuellen Archiven und Wissen“ (S. 25 ff.) stellt Barbara Paul „queer“ als radikales Projekt des Denkens im Kontext sozialer Gerechtigkeit und Widerstand gegen Gewalt voran. Sie fokussiert wissenschaftliche und künstlerische Arbeiten und fragt danach, welches radikale politische Potenzial diese entfalten können (S. 28). Unter Bezugnahme auf die Kritik an Homonationalismus und der Ausblendung von nicht-weißen Positionen gibt Paul Beispiele für interessante widerständige Konzepte der Bedeutungsproduktion wie VerUneindeutigung (Engel), Verunsicherungstaktik (Büsser) oder der heimlichen Attraktivität einer flexiblen Normalitätsgrenze (Link). Paul nutzt den Begriff des visuellen Archivs in Anlehnung an Foucault, indem sie visuelle Aussagen in ihren raum-zeitlichen Entstehungen und (Ver-)Wendungen fasst und zeigt, wie in filmischen und grafischen Darstellungen (zu enge) Klassifizierungen dezentriert, neu kontextualisiert, ambivalent gemacht, ungeordnet werden und bislang Nicht-Sprechbares gesprochen sowie Zukünftiges hervorgebracht wird.

In ihrem Aufsatz „Heteronormativität revisited. Komplexität und Grenzen einer Kategorie“ (S. 53 ff.) unternimmt Sabine Hark – ausgehend von aktuellen medialen Beispielen der Unsichtbarkeit von Heteronormativität als unhinterfragte Grundlagen des Denkens und Fühlens – einen Ritt durch die philosophische und sozialwissenschaftliche heteronormativitätskritische (Theorie-)Geschichte. Sie geht auch auf Kritik und Anschlüsse an feministische Theorie ein und plädiert letztendlich dafür, die genutzten Kategorien als eigensinnige Akteurinnen zu begreifen, die uns auffordern, uns nicht in epistemischen Gewissheiten einzurichten und multiperspektivische Auseinandersetzungen um die eigenen Grundlagen zu wagen.

Die Umgangsweisen mit Geschlecht in unterschiedlichen rechtlichen Feldern sind Gegenstand des Artikels „Jenseits von männlich und weiblich: Geschlecht im Recht“ (S. 7 ff.). Konstanze Plett gibt in den Bereichen Gleichberechtigung von Frauen, Entkriminalisierung von Homosexualität, Anerkennung gleichgeschlechtlicher Paarmodelle sowie den Kämpfen von Trans* und Inter* einen Überblick über die jeweiligen Veränderungen und Auseinandersetzungen im bundesdeutschen Recht.

Aus der Perspektive der Cultural Studies analysiert Josch Hoenes unter dem Titel „Das kulturelle Gewicht der Genitalien. Streifzüge durch die TransGenital Landscapes von Del LaGrace Volcano“ (S. 103 ff.) acht Fotografien auf ihr heteronormativitätskritisches Potenzial, gewohnte Blickregime und Darstellungsarten zu verlassen. Mit verschiedenen Bezügen, z. B. auf Kunstgeschichte (Courbet), Ethnologie (Levy-Strauss) oder Philosophie (Foucault) macht Hoenes selber eine abwechslungsreiche analytische Topografie auf, die nur selten einengend wirkt – wenn etwa die Darstellung von Penissen als „männliche Oberflächen“ (S. 114) beschrieben wird –, vor allem aber das Denken auch über Verflechtungen von Geschlecht und Sexualität hinaus in Bewegung hält.

Um eine raumbezogene Analyse geht es auch in Nina Schusters Beitrag „Ethnografische Zugänge zu einem queeren Raumkonzept“ (S. 147 ff.). Sie geht der Frage nach der Produktion queerer Räume am Beispiel verschiedener Dragking- und Transgender-Szenen nach und – unter Bezugnahme auf verschiedene Ansätze der Raumtheorie und queer geographies – zeigt vor allem auf, wie diese über die beständige Verhandlung unterschiedlicher sozialer Normen, die u. a. den Zugang zu und das Verhalten in diesen Räumen regulieren, hervorgebracht werden.

Sabine Fuchs fokussiert in ihrem Beitrag „Queerness zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Ambivalenzen des passing aus fem(me)nistischer Perspektive“ (S. 127 ff.) die Femme als Figur weiblichen und queeren Widerstands. Dabei spielt das Paradox der sichtbaren Unsichtbarkeit eine entscheidende Rolle: In einem visuellen System, welches Sichtbarkeit und Erkennbarkeit (= Anerkennbarkeit) privilegiert und dies mit Wissen und Wahrheitsproduktion verknüpft, unterläuft die Femme die scheinbare Gewissheit einer ablesbaren sexuellen Identität. Indem sie (heteronormativ) verkannt wird und ihr passing scheitert, wird sie zum „produktiven Störfaktor“ (S. 144) und der analytische und strategische Blick fällt auf nicht-visuelle Repräsentationspolitiken und die Hinterfragung der Herstellungsbedingungen von Anerkennung.

Unter der Überschrift „Lebensformenpädagogik: Queere Ansätze in der Bildungsarbeit“ (S. 169 ff.) gibt Stephanie Nordt aus sozialpädagogischer Perspektive einen Überblick über die Entwicklung der queeren Bildungsarbeit sowie über die unterschiedlichen theoretischen und praktischen Bezugspunkte der Lebensformenpädagogik, wie sie beim Berliner Bildungsträger „KomBi – Kommunikation und Bildung“ bzw. der Bildungsinitiative QUEERFORMAT umgesetzt werden. Wissenserwerb, reflektierendes und handlungsbezogenes Lernen bilden die drei Bausteine, mit denen geschlechtlich und sexuell vielfältige Kinder und Jugendliche konkret gestärkt und insgesamt eine demokratiefördernde Auseinandersetzung um plurale Lebensformen gestaltet werden können.

Unterlegt mit aussagekräftigen Fotos widmet sich Lüder Tietz in seinem Aufsatz „Pride-Paraden von LSBT*I*/Q. Möglichkeiten und Grenzen der Politik des Performativen“ (S. 193 ff.) der Analyse von kleidungs- und textbezogenen Inszenierungen zwischen Affirmation und Subversion. Mit einem repräsentationskritischen Blick fordert Tietz eine diskriminierungsfreie Herstellung aller Geschlechter ein, gerade auch der altbekannten, deren Herstellung vor dem Hintergrund der Rezeption von und Kritik an queeren Performanzen gerne aus dem Blick gerät. Anhand der zunehmenden Herstellung homonormativer Maskulinität zeigt er beispielsweise Praktiken der Vereindeutigung von Geschlecht, während gendernonkonforme Artikulationen weniger dominant sichtbar sind.

Insgesamt wird der Band getragen von einer Haltung, die „queer“ als leicht konsumierbaren Bestandteil neoliberaler, westlicher Vielfaltsdiskurse kritisiert und sein widerständiges Potenzial stark macht. Der Titel „Queer as…“ wird im Vorwort zwar mit der Fernsehserie „Queer as folk“ (etwa: „Schräg, wie die Leute halt sind“) in Verbindung gebracht, was deutlich macht, dass bereits vor 15 Jahren der Terminus „queer“ vermarktbar und das Leben (weißer) schwuler und lesbischer Protagonist_innen auch im Mainstream-TV zeigbar war. Der Satzbeginn „Queer as…“ könnte aber auch – gemäß eines in der queeren Community kursierenden Stoff-Aufnähers – mit „as in fuck you“ (in Gänze: „Not gay as in happy, but queer as in fuck you“, daneben ist eine weiße, schlanke Person mit Kopftuch und Kleid zu sehen, die zielend eine Pistole hält) weitergeführt werden. Dieser Kontext weist die Engführung von „queer“ auf angepasste Homosexualität, Cis- und Zweigeschlechtlichkeit sowie Konsumismus dezidiert zurück und greift heteronormative Verhältnisse unmissverständlich an. Auch dieser Titel würde dem im Sammelband praktizierten „perversen“ (= widernatürlichen) Denken und der mehrfach formulierten Aufforderung, auch die eigenen Normen und Kategorien in der queeren Wissensproduktion immer wieder gegen den Strich zu bürsten, gut voranstehen.

Mart Busche (Berlin)