Flugmedizin · Tropenmedizin · Reisemedizin - FTR 2018; 25(03): 97
DOI: 10.1055/a-0612-6201
Editorial
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ein Wort zur Migrantenmedizin

Gerd Burchard
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Publication Date:
02 July 2018 (online)

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
bekanntermaßen sind Gesundheitsprobleme bei Migranten insbesondere:

  • Erkrankungen mit höherer Prävalenz in den Herkunftsländern: Infektionen und ihren Folgekrankheiten (z. B. chronische Hepatitis, Helicobacter-pylori-Infektion, Tuberkulose), genetische Krankheiten (z. B. Hämoglobinopathien, FMF), Ernährungsstörungen und Mangelerkrankungen.

  • Seelische und körperliche Traumatisierungen direkt durch Gewalteinwirkung oder indirekt durch Verlust von Heimat, Angehörigen und sozialen Geflechten.

  • Gesundheitsprobleme nach Ankunft im Gastland, bedingt durch Integrationsprobleme, den schlechteren Zugang zu Gesundheitssystemen und die kulturelle Transition.

Die Schwierigkeit kann darin liegen, dass bei Migranten beziehungsweise Asylbewerbern auch seltene Krankheiten auftreten, mit denen in der Reisemedizin nicht zu rechnen ist.

Hierzu ein Bespiel: Sie werden in dieser Ausgabe der FTR einen Artikel über die Lepra lesen – und sich vielleicht fragen, ob dieses Thema noch aktuell und wichtig für Sie ist. Die Antwort lautet: Ja – und das aus 2 Gründen: Weltweit ist die Zahl neu entdeckter Leprafälle immer noch hoch. Und: Importierte Fälle bei Migranten in Deutschland sind zwar selten – aber irgendjemand muss sie diagnostizieren.

Weltweit lag im Jahr 2016 die Zahl neuentdeckter Fälle bei 215 000 weltweit, mit der höchsten Zahl in der WHO-Region Südostasien mit 161 000, entsprechend einer „new case detection rate/100 000 population“ von 8,2, in Afrika von 2,0 (WHO. Weekly Epidemiological Record 2017; 92: 501–520). Damit wird ersichtlich, dass man bei Migranten beziehungsweise Asylbewerbern mit Lepra rechnen muss. Dabei ist auch zu beachten, dass auch Nervenschäden (Chad DA et al. N Engl J Med 2004; 350: 166–176) oder Leprareaktionen die Erstmanifestation sein können (Ross RR et al. Int J Dermatol 2003; 42: 893–894). Man muss auch damit rechnen, dass die Lepra erst nach vielen Jahren manifest werden kann, so wurde in der Bernhard-Nocht-Ambulanz in Hamburg eine Lepra bei einem Thailänder gesehen, der bereits seit 18 Jahren in Deutschland lebte und zwischenzeitlich keine Reisen in die Heimat unternommen hatte (Schmiedel S et al. Lancet 2006; 367: 1458). Die RKI-Empfehlungen zum Screening von Asylanten umfassen ja nur das Messen der Temperatur, eine Inspektion des Gesichts und des Halses auf akute Exantheme sowie eine Inspektion der Hände (Interdigitalräume) auf Skabies – eine Ganzkörperuntersuchung auf Lepra wäre aber wegen der insgesamt niedrigen Prävalenz auch nicht sinnvoll (Taylor R et al. Lepr Rev 2003; 74: 240–248). Man muss also bei der entsprechenden Klinik daran denken.

In einer etwas älteren Arbeit aus Kanada (Boggild AK et al. CMAJ 2004; 170: 55–59) dauerte es im Durchschnitt 4,8 Jahre nach Beginn der Symptomatik, bevor Patienten mit Lepra einem Tropenmediziner vorgestellt wurden. In einer neuen Arbeit aus den USA betrug der Median der Zeit von Symptombeginn bis zur Diagnose 12 Monate, mit einer Spannweite von 1–96 Monate (Leon KE. Open Forum Infect Dis 2016; 3: ofw063). Folgen der verzögerten Diagnostik waren Leprareaktionen und Nervenschäden. Ähnliche Verläufe wurden in einer Reihe von Einzelfallberichten mitgeteilt (z. B. Kerkeni N et al. Int J Dermatol 2011; 50: 1383–1386).

Wie gesagt: Irgendjemand in Deutschland muss die importieren Leprafälle diagnostizieren. Tropen- und Reisemediziner in Deutschland müssen also mit der Lepra vertraut sein. Und deshalb werden wir in der FTR auch immer wieder Übersichtsartikel über eher selten importierte Erkrankungen veröffentlichen.

Hoffentlich haben Sie beim Lesen dieser Ausgabe viel Freude.