Dtsch Med Wochenschr 2018; 143(24): 1729
DOI: 10.1055/a-0649-3364
Editorial
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Die Alltagskunst des Weglassens – anhand zweier Beispiele

The art of omitting – two examples from everyday’s practice
Sebastian Schellong
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Publication Date:
03 December 2018 (online)

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Prof. Dr. med. Sebastian Schellong

Die venöse Thromboembolie (Beinvenenthrombose und Lungenembolie) ist eine häufige Erkrankung. Keine medizinische Disziplin, die nicht Berührung mit ihr hätte. Sie birgt das Potenzial einer dramatischen Akutsterblichkeit, und sie droht mit den behindernden Langzeitfolgen des postthrombotischen Syndroms und der chronischen thromboembolischen pulmonalen Hypertonie. Gründe genug, Maßnahmen sowohl der Primärprophylaxe als auch der Rezidivprophylaxe zu ergreifen.

Die Aufmerksamkeit der Ärzteschaft für dieses Thema zumindest in Deutschland ist keineswegs zu gering. Im Gegenteil: Medikamentöse VTE-Prophylaxe im stationären Sektor z. B. ist ein Standard, der oft über das durch Evidenz belegte Maß hinaus befolgt wird. Allein die Tatsache der Hospitalisierung und ihre Dauer bestimmen die Verordnung und die Dauer der medikamentösen Prophylaxe. Eine differenzierte – oder gar dokumentierte – Schätzung des expositionellen und des dispositionellen Risikos auch im Verlauf findet meist nicht statt. Häufige Gründe sind:

  • Angst vor Unterlassung

  • ungenaue Kenntnisse über Indikation und Nutzen

  • mangelndes Bewusstsein für Schadenspotenzial und Aufwand

Feinde des ärztlichen Alltags!

Ein zweites Beispiel: Vor nunmehr 25 Jahren wurden die häufigen – aber schwachen – hereditären Thrombophilien bekannt (Faktor-V-Leiden, Prothrombin201 210-Mutation). Im Gefolge dieser pathophysiologisch und genetisch in der Tat bahnbrechenden Entdeckungen wurden immer mehr genetische Varianten mit thrombophilem Potenzial identifiziert – allesamt noch schwächer als die beiden vorgenannten. Noch vor jeder Sicherung durch Evidenz – und heute gegen solide Evidenz – wurde die Testung auf derartige Mutationen („Thrombophilietestung“) Teil ärztlichen Handelns. Auch wenn die Jahre der größten Euphorie vorüber sind, gibt es immer noch eine erhebliche Überdiagnostik: Thrombophilietestung wird häufig in nicht entscheidungsrelevanten Situationen angefordert, und die Panels der durchgeführten Laboruntersuchungen sind in vielen Fällen weit überdimensioniert. Zu den drei obengenannten und auch hier aktiven Feinden des ärztlichen Alltags kommen weitere hinzu:

  • das drängende Bedürfnis von Patienten, „Gründe“ oder „Erklärungen“ für erlittene Erkrankungen zu suchen

  • eine ungerichtete ärztliche Wissbegier, auch wenn die angeforderten Informationen nicht relevant für die weitere Versorgung sind;

  • nicht zuletzt das ungehemmte Gewinnstreben der Anbieter derartiger Diagnostikleistungen

Die „Klug entscheiden“-Initiative der DGIM hat inzwischen über 100 Einzelthemen aus den verschiedensten Fachrichtungen identifiziert, bei denen nach übereinstimmender Meinung der betreffenden Fachgesellschaften Bedarf nach besser fokussiertem Handeln besteht. Die beiden oben ausgeführten Beispiele zeigen aber, dass es nicht nur um Einzelthemen geht, sondern um eine Haltung, eine tägliche Aktivität in der Abwehr der Feinde des ärztlichen Alltags. Mehrheitlich und entgegen einem allgemeinen Empfinden erfordert diese Aktivität das widerständige Weglassen häufiger als das willige Auch-noch-Machen. In dem Überangebot an möglichen Leistungen in Diagnostik, Prävention und Therapie scheint inzwischen das informierte und angstfreie Weglassen der schwierigere Teil der ärztlichen Kunst geworden zu sein.