Zeitschrift für Palliativmedizin 2018; 19(06): 269-270
DOI: 10.1055/a-0667-0217
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychoonkologie von der kurativen bis zur palliativen Versorgung

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Publication Date:
25 October 2018 (online)

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Anja Mehnert
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Sigrun Vehling

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

die Psychoonkologie nimmt in Deutschland wie international mittlerweile sowohl in der onkologischen und palliativen Versorgung als auch in der Forschung sowie in der Aus-, Fort- und Weiterbildung einen wichtigen Stellenwert ein. Sie hat sich beginnend in den 1960er-Jahren vor dem Hintergrund der Arbeiten von Elisabeth Kübler-Ross zur Kommunikation mit Sterbenden und Cecily Saunders im Rahmen der Londoner Hospiz-Bewegung in den letzten Jahrzehnten zu einer Fachdisziplin entwickelt, die sich den psychosozialen Anliegen von Krebspatienten und Angehörigen in allen Krankheitsphasen widmet. Die empirische Wissensbasis zu den psychosozialen Belastungen, Unterstützungsbedürfnissen und Interventionsmöglichkeiten ist inzwischen sehr differenziert.

Im Durchschnitt fühlt sich jeder zweite Krebspatient subjektiv stark belastet und gibt eine Bandbreite an erkrankungs- und behandlungsbedingten Problemen an wie Fatigue, Schmerzen, Schlafprobleme, Ängste sowie Niedergeschlagenheit und Depressivität. Bei einem Drittel der Patienten liegt eine psychische Störung – vor allem Anpassungs-, Angst- und affektive Störungen – vor. Hinzu kommt eine Vielzahl an subsyndromalen Störungen, d. h. Belastungen, bei denen die Kriterien einer psychischen Störung nicht vollständig erfüllt sind, die aber dennoch die Lebensqualität der Betroffenen stark einschränken wie z. B. Ängste vor dem Fortschreiten oder Wiederauftreten der Erkrankung (Progredienzangst). Das breite Belastungsspektrum von Patienten spiegelt sich in den vielfältigen Unterstützungsbedürfnissen wider. Ein Drittel der Patienten äußert den Wunsch nach psychoonkologischer Unterstützung, ein weitaus größerer Anteil nach Information und Beratung zu verschiedenen Aspekten der Erkrankung und den psychosozialen Krankheitsfolgen.

Eine schwere und lebensbedrohliche Erkrankung ist aber auch mit signifikanten Belastungen der Partnerschaft, der Familie und des sozialen Umfelds verbunden, die gleichzeitig eine der wichtigsten Ressourcen für den Erkrankten darstellen. Empirische Untersuchungen zeigen eine mindestens ebenso hohe psychische Belastung der Partner im Vergleich zu den Patienten – meist bedingt durch die Vielzahl der teilweise chronischen Stressoren im Krankheitsverlauf.

Die psychoonkologische Interventionsforschung hat inzwischen eine Reihe an Wirksamkeitsnachweisen für ein breites Spektrum an Ansätzen erbracht. Sie reduzieren die psychische Symptombelastung und verbessern die Lebensqualität der Patienten. Die heute verfügbaren psychoonkologischen Interventionen reichen von Maßnahmen zur Reduktion psychischer Belastungen und Symptomkontrolle – insbesondere bezogen auf den Umgang mit Ängsten, Depression, Schmerz oder Fatigue – über Strategien zur Verbesserung des Gesundheitsverhaltens bis hin zum Umgang mit den psychosozialen Folgen bei Langzeitüberlebenden nach einer Krebserkrankung (Cancer Survivorship). Dennoch zeigt die Studienlage auch, dass die Befundlage zu psychosozialen Belastungen von Patienten und Angehörigen und spezifisch der Forschungsstand zu Interventionen in der palliativen Versorgung eher begrenzt ist.

In den letzten Jahren hat sich der Blick (wieder) vermehrt auf Interventionen gerichtet, die Belastungen spezifisch im Kontext der Krebserkrankung verstehen (z. B. Progredienzangst, würde- und sinnbezogene Belastungen), und scheint damit die Ära allgemeinerer Ansätze psychotherapeutischer Interventionen bei körperlich Gesunden, die für Krebs „adaptiert“ wurden, teilweise abzulösen. Obwohl durch diese Entwicklung zuletzt international zunehmend auch fortgeschritten erkrankte Patienten in den Blick kamen, steht die Psychoonkologie nunmehr vor grundsätzlichen Fragen, die auch für ihr Verhältnis zur Palliativmedizin relevant sind: Warum sind psychoonkologische Interventionen wirksam, d. h. welche psychologischen Mechanismen unterliegen therapeutischen Veränderungen? Wie lassen sich Anpassungsprozesse bei krebsspezifischer Belastung verstehen? Wie lassen sich krebsspezifische psychologische Belastungen beschreiben und wann erreichen sie die Schwelle klinischer Bedeutsamkeit? Scheinbar abstrakt, ist dies durchaus praxisrelevant, wenn es z. B. darum geht, den Bedarf an und die Rolle von psychoonkologischer Versorgung auf ein auch konzeptionell starkes Fundament zu stellen. Wann ist welche Art der psychoonkologischen Betreuung bei fortgeschrittener Erkrankung indiziert? Die Bandbreite potenziell psychologischer Anliegen ist groß, und deren Individualität scheint mit fortschreitender Erkrankung zu wachsen: Raum für die eigene Krankheits- und Leidensgeschichte, Verbundenheit, Sinnstiftung oder Fragen des Wunsches nach einem vorzeitigen Tod. Eine angemessene Erweiterung des psychiatrisch geprägten Verständnisses psychischer Belastungen (z. B. Depression, Angst) kann u. a. durch die gezielte Erforschung existenzieller Konzepte (z. B. Demoralisierung, Death Anxiety, Spiritualität) erfolgen.

Die palliativmedizinische Forschung ist wie die Versorgung durch ein breites und ebenfalls einen interdisziplinären Zugang erforderndes Themenspektrum gekennzeichnet, das von grundlagenorientierten Ansätzen bis hin zur Versorgungsforschung reicht. Aufgabe der palliativmedizinischen Versorgungsforschung ist es, Fragen des Zugangs, des Bedarfs, der Inanspruchnahme und der Gestaltung psychoonkologischer Aufgaben innerhalb der ambulanten wie stationären palliativen Versorgung zu analysieren. Neben einer besseren Studienqualität besteht ein dringendes Forschungsdesiderat in der Entwicklung, Optimierung und Überprüfung von (manualisierten) psychoonkologischen Interventionen, die auf Patientengruppen mit hohen psychosozialen Belastungswerten und körperlich wie funktionell starken Einschränkungen abgestimmt sind.

Es ist zu prüfen, wie die übergreifende Zielsetzung einer palliativmedizinischen Versorgung, nämlich das Erreichen einer möglichst guten Lebensqualität für Patienten und Angehörige, durch innovative Versorgungs- und Behandlungskonzepte besser realisiert werden kann.

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Prof. Dr. Anja Mehnert

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Dr. Sigrun Vehling