Flugmedizin · Tropenmedizin · Reisemedizin - FTR 2018; 25(05): 193
DOI: 10.1055/a-0678-1089
Editorial
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schiffe sind nicht für den Hafen gebaut

Oliver Ullrich
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Publication Date:
30 October 2018 (online)

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wenige Tage vor der Übergabe des ISS-Kommandos an Alexander Gerst erschien in einer großen deutschen Wochenzeitung eine Art „Generalabrechnung“ mit der deutschen ISS-Forschung. Der Artikel beleidigt in eleganten Worten die deutsche ISS-Forschung als Werk mittelmäßiger Wissenschaftler, die sich mangels anderer Möglichkeiten und unter Verbrauch gewaltiger Steuermittel mit für die Erde irrelevanten Fragen beschäftigen und dabei keine wichtigen Ergebnisse produzieren. Schnell ließe sich die zusammenstrickte Argumentation widerlegen: Mit den in Wahrheit sehr geringen Bewilligungsquoten für ISS-Experimente, mit dem mehrstufigen hochkompetitiven Auswahlverfahren, mit dem bereits hochinnovativen Entwicklungsweg bis zur Realisierung. Man könnte die Überheblichkeit diskutieren, wissenschaftliche Ergebnisse seinen nichts wert, wenn sie nicht in den „Top-10-Journals“ publiziert werden. Genauso könnte man sich fragen, ob das für die internationale Medienlandschaft auch gilt und wo sich hier die Wochenzeitschrift des Autors wiederfindet. Man könnte den enormen Wertschöpfungsfaktor der deutschen ISS-Beteiligung anführen, der den investierten Kosten einen doppelt so hohen ökonomischen Nutzen gegenüberstellt.

Aber die Kernaussage liegt tiefer. Da wo sich der Artikel zum Richter über die deutsche ISS-Forschung aufschwingt, tritt ein fundamentales Verständnisproblem mit der Dimension der Zeit zutage: So wird gemeckert, dass die Ergebnisse eines seit 2014 auf der ISS laufenden Experimentes noch nicht publiziert sind. Fünf Jahre scheinen also bereits unerträglich lange. Die Ungeduld kommt leider nicht ganz unverschuldet: Denn wenn zu viele und zu schnelle Erfolge versprochen werden, entstehen hohe Erwartungen, denen die ISS-Forschung nun hinterherlaufen muss. Aber Forschung auf der ISS unterscheidet sich in ihrem Wesen nicht von der Forschung 350 km weiter unten: Sie ist mühsam, ihre Ergebnisse sind nicht planbar, ihr Weg ist keine befestigte Straße, sondern dunkles Dickicht, in das wir mühevoll Schneisen schlagen, ohne zuvor wissen zu können, was es danach zu sehen gibt.

Wenn wir aus Ungeduld nur auf angewandte Forschung setzen, werden wir bald nichts mehr haben, was wir anwenden können. Wer ständig die sofortige Nutzbarmachung fordert und der ISS-Forschung zu geringen Wert unterstellt, hat nicht viel von Wissenschaft verstanden. Es ist nachvollziehbar, dass die Unsicherheit der Grundlagenforschung Unbehagen erzeugt, denn sie erfordert Mut und einen geistigen Horizont, der mehr als ein paar Jahre in die Zukunft und mehr als ein paar Kilometer über die Erde hinausreicht. Und sie erfordert die Sehnsucht nach der Entdeckung des Unbekannten. Schon vor 90 Jahren hatte es der amerikanische Unternehmer und Autor John Augustus Shedd auf den Punkt gebracht: „A ship in harbor is safe; but that’s not what ships are made for“. Damit ist alles gesagt: Wir müssen den sicheren Hafen verlassen. Und wir wissen nie, wie lange die Reise dauert. Darum geht es in der Forschung.