Suchttherapie 2019; 20(01): 05-06
DOI: 10.1055/a-0828-9236
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Nach der Reform des Substitutionsrechts: Kann die Versorgung vor Ort gesichert werden?

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Publication Date:
08 February 2019 (online)

Das reformierte Substitutionsrecht bewährt sich in der Praxis, die Flexibilisierung der Verordnungen ist praxis- und patientenbezogen. Es muss sich aber erst zeigen, ob es ausreicht, die medikamentengestützte Behandlung Opioidabhängiger in den kommenden Jahren zu sichern.

Am 2. Oktober 2017 wurden die Änderungen der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVVÄndV vom 22. Mai 2017) wirksam. Die Änderungen beziehen sich in der Hauptsache auf eine erhöhte Rechtssicherheit für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte, Erleichterungen im Umgang mit der Ausgabe der Substitutionsmittel und der Dokumentation.

Die Änderung der Methoden zur vertragsärztlichen Versorgung des Gemeinsamen Bundesauschusses (GBA) hat die auf Evidenz basierende Richtlinie der Bundesärztekammer anerkannt und ein paar bürokratische Entlastungen gebracht. Diese Flexibilisierung kommt allerdings 5–10 Jahre zu spät, um kurzfristig die strukturelle Krise der Substitutionsbehandlung lösen zu können. Die Versorgungskrise ist längst da.

  • In manchen Landesteilen müssen Patientinnen und Patienten allwöchentlich oder sogar täglich weite Wege zur Praxis oder Ambulanz fahren. In mehreren Kassenärztlichen Vereinigungs-Bezirken gibt es bereits „weiße Flecken in der Substitutionslandschaft“.

  • In Stadtstaaten und Großstädten werden laut Substitutionsregister des BfArM überdurchschnittlich viele Patientinnen und Patienten pro Praxis behandelt, auch weil die Versorgung in den umliegenden Landkreisen nicht mehr gewährleistet ist. Auch in den Ballungsgebieten gibt es de facto ebenfalls keine freie Arztwahl für Opioidabhängige mehr. Die diamorphingestützte Behandlung wurde nur unzureichend ausgeweitet.

  • Nach Berechnungen verschiedener Kassenärztlicher Vereinigungen (KV) könnte Anfang der 2020er Jahre ein Drittel der jetzt Substituierten ohne ärztliche Behandlung dastehen. Einen bundesweiten Überblick gibt es noch nicht.

Nur eine Minderheit der niedergelassenen PsychiaterInnen ist bereit, Opioidabhängige zu behandeln. Warum hat sich das über all die Jahre nicht geändert?

  • Das Konsiliarwesen löst die Strukturkrise aller Voraussicht nach nicht, da die Anzahl der konsilarisch Behandelten gerade mal ein Prozent der SubstitutionspatientInnen insgesamt darstellt.

  • Die klinischen Suchtabteilungen könnten weitaus mehr Opioidabhängige in Institutsambulanzen behandeln.

  • Schmerz- und Suchtmedizin haben auch in den reformierten Medizinstudiengängen noch immer nicht den ihnen gebührenden Raum erhalten.

Es gibt zahlreiche Apotheken, die Opioidabhängige und deren Substitutionsverordnungen mit Abgaben zur eigenverantwortlichen Einnahme nicht annehmen. Und für eine Abgabe unter Sicht schon gar nicht.

  • Andererseits wird Apotheken, die Substitute unter Sicht abgeben, dafür eine angemessene Honorierung verweigert.

  • An funktionierenden regionalen Netzwerken zur Versorgung haben alle gleichermaßen ein Interesse, also muss man miteinander reden, auch über Geld.

  • Notfallmitgaben: Es geht nicht darum, das Dispensierrecht der Apotheker auszuhebeln – es geht um eine praktische, rechtlich belastbare und patientenorientierte Lösung für gemeinsam zu definierende Ausnahmesituationen.

Die aktuelle Versorgungskrise wird sich aller Voraussicht nach weiter zuspitzen. Für diesen Fall hat die BtMVV eine Notstandsregelung ermöglicht: Dann kann der Öffentliche Gesundheitsdienst zur Behandlung und Abgabe geöffnet werden. Wenn also die Kassenärztlichen Vereinigungen die ambulante Versorgung nicht mehr garantieren können, würden die Gesundheitsämter einspringen dürfen.

  • Wollen wir das? Wollen wir Abgabestellen in Gesundheitsämtern, deren Personal das auf politische Anordnung machen muss? Wollen wir die individuell ausgerichtete Behandlung zugunsten von Programmen aufgeben?

  • Welche alternativen Modelle zur Abgabe von Substitutionsmitteln und zur Behandlung gibt es? Kann bspw. die Bielefelder PSB-Einrichtung, wo in Kooperation mit einer örtlichen Praxis substituiert wird, ein Modell sein?

  • Die PSB-Einrichtungen werden erkennen, dass die PSB nicht mehr in allen Fällen zwingend vorgeschrieben ist. Die Einzelfallabrechnung kann eine Alternative sein. Allein auf die Haushaltszuwendungen zu bauen, ist auf die Dauer riskant.

  • Die Behandlung von Opioidabhängigen in Haft ist nach wie vor nicht in jedem Bundesland gesichert. Die Qualität der Substitutionsbehandlungen in Haft und auch die ambulanten Behandlungen per privater Verordnung werden im Vergleich mit der Behandlung von KassenpatientInnen zu wenig kontrolliert.

EBM – Erweiterter Bewertungsmaßstab: Das Honorar für die „konsiliarische Untersuchung und Beratung eines Patienten im Rahmen des Konsiliariusverfahrens“ und die Gebührenziffer für ein ausgehändigtes Rezept mit eigenverantwortlicher Einnahme entsprechen mitnichten dem damit verbundenen Aufwand.

  • Vom Honorarwesen her sehen sich manche Schwerpunktpraxen und Ambulanzen genötigt, möglichst viele Patientinnen und Patienten das Substitut häufig und auch an Wochenenden in den Praxen und Ambulanzen einnehmen zu lassen. Das wird honoriert, und diese Einkünfte sind unverzichtbar. Damit werden Patientinnen und Patienten zu Geiseln für die Wirtschaftlichkeit.

  • Die Vergütung für die Substitutionsbehandlung gehört also weiterhin auf den Prüfstand.

Auf politischer Ebene gibt es die Beschlüsse des Bundesrats und der Gesundheitsministerkonferenz der Länder, die Auswirkungen der Rechtsreform zu beobachten und den aktuellen Stand der Versorgung zu dokumentieren. Die Dokumentation soll wissenschaftlich begleitet werden. Die Bundesärztekammer berät in ihrem Suchtausschuss mit den Vertretungen der Landesärztekammern, was die Kammern beitragen können zur Sicherung der Behandlung vor Ort. Die Vorsitzenden der KV-Qualitätskommissionen arbeiten ebenfalls an Schritten zur Krisenbewältigung. Die KV Bayern hat beschlossen, Ärzte, die eine methadongestützte Behandlung opioidabhängiger Patienten übernehmen, finanziell besonders zu fördern.

Die Substitutionsbehandlung in Deutschland konnte sich mehr als 25 Jahre auf die starke Beteiligung der Hausärztinnen und -ärzte stützen. Diese Grundlage bricht gerade weg. Die Berufs- und Fachverbände weisen seit langem auf die Entwicklung hin. Ein Rezept mit nachhaltiger Wirkung haben auch sie nicht. Niemand hat ein Rezept. Wer richtet einen Substitutionsratschlag aus?

Hans-Günter Meyer-Thompson, Hamburg
Redakteur forum-substitutionspraxis.de