Z Sex Forsch 2019; 32(01): 52-53
DOI: 10.1055/a-0835-9475
Bericht
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Verborgene Sexualitäten 1

Bericht über die Jahrestagung 2018 der Gesellschaft für Sexualwissenschaft
Alexander Naß
Institut für Soziologie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
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Publication Date:
20 March 2019 (online)

In Zusammenarbeit mit der Medizinischen Fakultät und der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig veranstaltete die Gesellschaft für Sexualwissenschaft e. V. (GSW) am 27.10.2018 ihre Jahrestagung zum Themenschwerpunkt „Verborgene Sexualitäten“. Der Veranstaltungsort war das Studienzentrum der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig.

Nach einführender Begrüßung durch Barbara Drinck (Vorstand GSW) und anschließendem Grußwort zur historischen Entwicklung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit pluralen Sexualitäten durch die Rektorin der Universität Leipzig Beate A. Schücking stellte der Beitrag von Nicola Döring (Technische Universität Ilmenau) den Auftakt der eintägigen Veranstaltung dar. In den Vormittagsstunden fesselte sie das Publikum mit ihrer Fragestellung „Sexspielzeuge, Sexpuppen, Sexroboter: Unsere geheimen neuen Bettgefährten?“. Sehr anschaulich verdeutlichte sie dem Auditorium, dass Sexspielzeuge mittlerweile in der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit angekommen sind, sehr offensiv beworben werden und auch eine eingehende wissenschaftliche Analyse erfahren. Verborgenheit umhüllt hingegen den Besitz von Sexpuppen, der noch immer gesellschaftlich wie wissenschaftlich tabuisiert scheint. Hierzu wurden die mitlaufenden Implikationen, die diese Tabuisierung auslösen, besprochen – wie bspw. die verbreitete Annahme, dass Menschen, die Sexpuppen nutzen, nicht bindungsfähig seien oder experimentelle Sexualpraktiken ausleben wollten. Sehr lebensnah blieb der aufgeworfene Denkanstoß im Gedächtnis, dass wir bei Kindern keine Sorge verspüren, sie mit Puppen spielen zu lassen, es bei Erwachsenen hingegen als anstößig empfinden. Die Hinweise zu den Themen in einschlägigen Foren für Puppenbesitzer verdeutlichten, dass zumeist der gesamte heimische Alltag mit den Puppen gemeinsam gelebt wird. Dieser Aspekte führte zum dritten Punkt – der Vision einer Zukunft mit Sexrobotern als Lebensgefährten an unserer Seite. Es wird sowohl in Deutschland als auch international im Bereich der Robotik und Künstlichen Intelligenz (KI) viel geforscht. Man gewinnt beinahe den Eindruck, dass die bereits heute bestehende Authentizität lebensechter Highend-Puppen nur auf eine Zusammenführung mit belebender KI zu warten scheint.

Nicht immer bleiben verborgen gelebte Sexualitäten auch im Verborgenen. So kann es vorkommen, dass diese nach einem tödlich verlaufenen autoerotischen Unfall (AAD) einen öffentlichen Schauplatz in der Rechtsmedizin erhalten. Julia Schlote (Universität Leipzig, Rechtsmedizinisches Institut) zeigte mit ihrem Vortrag auf, dass insbesondere Selbstfesselungen, verschiedene Formen der Strangulation, der Re-Inhalation der eigenen Atemluft oder die Nutzung technisch unzureichender elektronischer Geräte statt eines erotischen Lustgewinns einen tödlichen Ausgang nehmen können. Besonders bemerkenswert erscheinen die häufig sehr ausgefeilten Vorrichtungen, die die betreffenden Personen zumeist selbst entwickelt haben. Diesen Einfallsreichtum stellte Frau Schlote anhand zweier ausgewählter Fälle fotografisch dar. Gezeigt wurden dabei die Auffindesituation der Personen und Aufnahmen aus den rechtsmedizinischen Untersuchungen. Wenngleich das Bildmaterial nicht für alle Anwesenden vor der Mittagspause so gut verdaulich war, machte es doch die schwierige Situation der Rechtsmedizin und der ermittelnden Beamten deutlich. Um zweifelsfrei suizidale Handlungen oder ein Fremdverschulden ausschließen zu können, muss auch mit den Angehörigen ein offenes Gespräch über die zuvor verborgene Sexualität des Verstorbenen geführt werden.

Joachim Guzy (Psycholog. Psychotherapeut, Dresden) stellte einen neuen Betrachtungsansatz entlang der Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen (PSI-Theorie) nach Julius Kuhl vor, der Patienten mit fetischistischen Sexualpräferenzen Hilfe verspricht, sofern sie unter dieser Präferenz leiden. Er verdeutlichte seinen Ansatz am Beispiel eines Mannes, der zur sexuellen Stimulation die Vorstellung einer rauchenden Frau vor seinem geistigen Auge benötigte, jedoch eine überzeugte Nichtraucherin als Partnerin hatte. Der für den Patienten damit unauflösbaren Situation wird im Rahmen des von Herrn Guzy vorgestellten Ansatzes, statt mit einer Neubesetzung des erotischen Stimulus, mit einem „Ebenensprung“ begegnet. Indem sich der Patient auf einer höheren Ebene die Liebe zu seiner Partnerin noch einmal bewusster macht, sind daraus positive Auswirkungen auf die gemeinsame Sexualität des Paares erwartbar.

„Heterosexueller BDSM – Spiel, Spaß, Unverbindlichkeit?“ lautete der Titel des Vortrages von Kirstin Linnemann (Hochschule Merseburg). Diese Fragestellung bearbeitete sie in Form einer Online-Umfrage mit rund 2 000 Befragten. Ihr Forschungsinteresse galt dabei den im Kontext BDSM gelebten Beziehungsmodellen. Gerade vor dem Hintergrund vermehrt öffentlicher Beschäftigung mit dem Thema sowie der zunehmenden Kommerzialisierung von BDSM für Kleidungsindustrie und Werbezwecke griff sie die Frage auf, wie verborgen BDSM in den Beziehungen tatsächlich ausgelebt wird. Hierfür stellte Frau Linnemann eine Unterteilung nach der Dauer dieser Partnerschaften und dem Ausmaß, das BDSM in den Partnerschaften einnimmt, auf. Dieses Ausmaß wurde bestimmt durch die Lebensbereiche, in denen die Paare BDSM leben. Das Kontinuum reicht hierbei von einem Erotic Power Exchange (EPE), bei dem der sexuelle Aspekt betont wird, jedoch beide Partner im Alltag gleichberechtigt zusammenleben, bis hin zum Total Power Exchange (TPE), bei dem ein totaler Machtaustausch stattfindet, der sich auch in nichtsexuelle Lebensbereiche erstreckt. Nach einer Einführung in die verschiedenen szenespezifischen Begrifflichkeiten wurden die Studienergebnisse vorgestellt. Diese zeigten auf, dass es sich zumeist um langjährige Partnerschaften handelt, die sich durch ein hohes Maß gegenseitigen Vertrauens auszeichnen, und in denen die BDSM-Praktiken eher einen verborgenen, inneren Kern dieser Verbindungen markieren. Ebenso ist der Umstand, dass Frau Linnemann zunächst eine längere Einführungszeit in die Szene benötigte, um bei den Befragten die nötige Offenheit zur Teilnahme zu erreichen, ein die öffentliche Darstellung konterkarierendes Ergebnis ihrer Studie.

Mit dem vorletzten Redebeitrag wurde der Themenkomplex zur Transgeschlechtlichkeit eröffnet. Zur Einstimmung wurde auf zentrale Begrifflichkeiten eingegangen sowie kurz auf die neue „AWMF-S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit“ hingewiesen. Darüber hinaus wurden zwei Kurzfilme zur geschlechtsangleichenden Genitaloperation (female-to-male) und zur Transition der körperlichen Gesamterscheinung durch Testosteron gezeigt. Anschließend stellte Thomas M. Goerlich (Universitätsmedizin Leipzig) in Form einer Präsentation mit Bildmaterial und Zitaten den Lebensweg von Stefan S. vor. Die Verknüpfung zur verborgenen Sexualität ergab sich in diesem Beitrag nicht aus der geschlechtlichen Identität von Stefan S., denn dieser lebt seit einigen Jahren völlig öffentlich und ungeoutet als Mann. Die für die gesellschaftliche Wahrnehmung verborgene Sexualität besteht in diesem Fall darin, Sexualität als Mann ohne Penis zu leben. Eine von vielen Möglichkeiten hierfür stellte der unmittelbar nachfolgende Beitrag vor.

Sofia Koskeridou (Institut für Epithetik, Norderstedt) rundete die Tagung mit der Vorstellung ihrer handgefertigten Penis-Hoden-Epithesen ab. Mit diesen zeigte sie eine Alternative für ebenjene Transmänner auf, welche keinen Penoidaufbau wünschen, diesen aus medizinischen Gründen nicht in Anspruch nehmen können oder deren erfolgte Aufbauoperation misslungen ist. Die Epithesen werden aus medizinischem Silikon naturgetreu modelliert und auf die Anatomie der Patienten individuell angepasst. Die Fixierung erfolgt mittels Hautkleber, sodass ohne zusätzliche Halterungen im Stehen uriniert und Sexualverkehr ausgeübt werden kann. Der von Frau Koskeridou deutlich hervorgehobene Unterschied zu handelsüblichen Packern und Dildos besteht insbesondere in der Berücksichtigung der Anatomie der Kunden. So sorgt die individuelle Formung der Epithese zum Urinieren dafür, dass diese auf die Lage der Harnröhrenöffnung angepasst ist, und damit keine ungewollten Missgeschicke geschehen können. Die Epithese für den Sexualverkehr verfügt zusätzlich über eine Stimulanzfunktion für deren Träger. Als Alternative zum Penoidaufbau sind diese Epithesen nun auch im Hilfsmittelverzeichnis des GKV-Spitzenverbandes geführt. Zur Erheiterung aller Teilnehmenden hatte Frau Koskeridou einige Anschauungsexemplare mitgebracht, welche zum Schluss näher untersucht werden durften.

Resümierend handelte es sich um eine sehr abwechslungsreiche Tagung, die den Teilnehmenden binnen kürzester Zeit viele spannende Einblicke in die unterschiedlichsten Forschungs- und Praxisfelder gewährte. Das Programm wurde durch viele interessierte Nachfragen aus dem Publikum und einen spannenden Austausch während der Pausen ergänzt. Alles in allem darf man auf die kommende Tagung gespannt sein, die sich mit ihrem Titel „Verborgene Sexualitäten 2“ schon jetzt als Fortsetzung ankündigt.