Z Gastroenterol 2019; 57(04): 539-540
DOI: 10.1055/a-0852-7506
Mitteilungen der Gastro-Liga
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Auf den Punkt gebracht: Somatoforme gastrointestinale Störungen

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Publication Date:
09 April 2019 (online)

Somatoforme Störungen sind häufige Krankheitsbilder, wobei Frauen etwa doppelt so häufig betroffen sind wie Männer. Laut der ICD-10 bieten Patienten mit somatoformen Störungen wiederholt körperliche Symptome dar und fordern oftmals eine Vielzahl, auch invasiver, medizinischer Untersuchungen ein, dies mitunter trotz wiederholt negativer Vorbefunde und der ärztlichen Versicherung, dass die Beschwerden nicht körperlich begründbar sind. Hier ist wichtig zu bemerken, dass aufgrund der mittlerweile genaueren (Ausschluss-)Diagnostik eventuell vorhandene körperliche Befunde nicht das Ausmaß der Beschwerden erklären, diese beiden Parameter somit nicht korrelieren. Häufig lässt sich jedoch ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Beschwerden und belastenden Lebensereignissen herausarbeiten, womöglich jedoch nicht im ersten kurzen anamnestischen Kontakt.

Für die Gastroenterologie ist vor allem die somatoforme autonome Funktionsstörung des oberen (F45.31) und unteren (F45.32) Verdauungssystems relevant; auf diese soll in den nächsten Absätzen eingegangen werden. Je nach Fachgebiet werden diese Krankheitsbilder unterschiedlich bezeichnet; so wird in der Gastroenterologie vorrangig vom Reizmagen (funktionelle Dyspepsie, K30) und dem Reizdarm (K58) gesprochen. Diese Krankheitsbilder sind in der Gastroenterologie ausgesprochen häufig, so entfallen 50 % der ambulanten gastroenterologischen Vorstellungen auf diese Diagnosen, v. a. auf das Reizdarmsyndrom. Aus diesem Grund soll speziell auf diese Erkrankung eingegangen werden.

Das Reizdarmsyndrom ist eine weltweit häufige Erkrankung mit einer Prävalenz von ca. 11 %. Es kann in jedem Lebensalter auftreten und betrifft häufiger Frauen als Männer. Laut deutscher S3-Leitlinie von 2011 (die neue Auflage wird in Kürze erscheinen) ist das Reizdarmsyndrom definiert als:

  • chronische (länger als 3 Monate) anhaltende Beschwerden (z. B. Bauchschmerzen, Blähungen), die von Patient/Arzt auf den Darm bezogen werden und in der Regel mit Stuhlgangveränderungen einhergehen (aber nicht müssen),

  • der Patient sucht aufgrund der Beschwerden Hilfe und hat häufig ausgeprägte gesundheitsbezogene Ängste, die Lebensqualität ist deutlich reduziert und

  • andere Krankheitsbilder, welche die Symptome hervorrufen können, sollten ausgeschlossen werden

Hierzu sollte eine Ausschlussdiagnostik erfolgen, welche eine körperliche Untersuchung, Laboruntersuchung, eine Abdomensonografie, ggf. eine gynäkologische Untersuchung und im Falle des Vorliegens von Diarrhö zusätzlich eine Ösophagogastroduodenoskopie (z. A. Zöliakie) und eine Koloskopie (z. A. chronisch entzündliche Darmerkrankung und mikroskopische Kolitis) sowie Atemtests z. A. von Kohlenhydratunverträglichkeiten umfasst. Finden sich hier keine ausreichenden organpathologischen Befunde kann der V. a. auf ein Reizdarmsyndrom gestellt und eine Therapie begonnen werden. Es ist zu bemerken, dass das Reizdarmsyndrom eine hohe Überlappung mit anderen somatoformen Störungen (z. B. Fibromyalgie, chronisches Fatigue-Syndrom), aber auch psychischen Erkrankungen (Depression, Angststörungen) aufweist; dies ist oftmals mit einem schwereren Krankheitsverlauf assoziiert. Diese Überlappung spiegelt sich in der neuen ICD-11 (aktuell noch in Vorbereitung) wider, in welchem diese Erkrankungen als bodily distress disorders zusammengefasst werden.

Im nordamerikanischen Raum wird das Reizdarmsyndrom seit 2017 gemäß der neuen Rom-IV-Klassifikation den Störungen der Darm-Gehirn-Interaktion zugerechnet. Dieser Name greift die Pathophysiologie auf, welche am besten durch das biopsychosoziale Krankheitsmodell zusammengefasst wird. Hierbei spielen – in unterschiedlicher Kombination – biologische (z. B. Epi-/Genetik, Infektionen, Antibiotikagebrauch), psychische (z. B. traumatische Lebenserfahrungen) und soziale (z. B. Isolation, erkrankte Familienmitglieder) Faktoren eine Rolle. Bislang sind jedoch weder klare Bio- noch Psychomarker zur Diagnostik verfügbar.

Die Behandlung des Reizdarmsyndroms ist sehr individuell und beinhaltet verschiedene Therapiebausteine. An erster Stelle sollten Lebensstiländerungen (gesunde Ernährung, ggf. zeitlich begrenzte diätetische Interventionen wie die FODMAP-Diät, sportliche Betätigung, ggf. Entspannungsverfahren) stehen. Da keine kausale medikamentöse Behandlung möglich ist, steht eine symptomatische Medikation im Vordergrund (z. B. Butylscopolaminiumbromid bei Krämpfen, Mebeverin bei Schmerzen, Loperamid bei Diarrhö und Macrogol bei Obstipation). An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass es für den Einsatz von Probiotika derzeit noch keine überzeugende und für die sogenannte Stuhltransplantation in diesem Zusammenhang keine Evidenz gibt. Die oben genannte symptomatische Medikation sollte – wie in vielen guten Studien gezeigt – bei Bedarf durch eine off label antidepressive Behandlung mit Trizyklika (bei Diarrhö) oder Serotonin-Reuptakehemmern (bei Obstipation) erweitert werden. Diese zielt auf die Darmsymptomatik und nicht den antidepressiven Effekt ab. Ebenfalls sehr gute Evidenz gibt es für den Einsatz von Psychotherapie (Verhaltenstherapie sowie psychodynamische Verfahren), diese bleiben aus Kapazitätsgründen jedoch schwereren/komplexeren Verlaufsformen vorbehalten. Nicht zuletzt ist die darmgerichtete Hypnotherapie ein vielversprechender Ansatz. Sollte es trotz Kombination der o. g. Verfahren zu keiner ausreichenden Besserung der Symptomatik kommen, ist an eine (teil)stationäre und multimodale psychosomatische Behandlung zu denken.

So nimmt es nicht wunder, dass bei der Behandlung von Patienten mit somatoformen gastrointestinalen Störungen eine enge Zusammenarbeit von Gastroenterologen und Psychosomatikern wichtig ist. Dies kann sowohl zu einer höheren Zufriedenheit auf Patienten- wie Behandlerseite führen. Unter Ausschöpfung der o. g. Maßnahmen haben Patienten mit somatoformen gastrointestinalen Störungen eine günstige Prognose. Allerdings erfüllen ca. 50 % der Patienten nach 7 Jahren weiterhin die Diagnosekriterien, oftmals sind die Beschwerden jedoch deutlich gemindert. Eine Vollremission der Beschwerden konnte lediglich in 10 % der Fälle erreicht werden und sollte somit möglichst nicht als Behandlungsziel definiert werden.

Informationen zu den Autoren

Prof. Dr. Andreas Stengel

Prof. Dr. Andreas Stengel ist Oberarzt in der Inneren Medizin VI, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen und Leiter der psychosomatischen Ambulanz, Institutsambulanz sowie des Konsil- und Liaisondienstes. Seine klinischen Schwerpunkte sind somatoforme Störungen, stressassoziierte Erkrankungen, Psychoonkologie sowie Essstörungen. Er ist aktuell 2. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität.

Prof. Dr. Stephan Zipfel

Prof. Dr. Stephan Zipfel ist Ärztlicher Direktor der Inneren Medizin VI, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen, Ärztlicher Direktor des Kompetenzzentrums für Essstörungen und Prodekan der Medizinischen Fakultät. Seine klinischen Schwerpunkte als Facharzt für Innere Medizin und Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sind somatoforme Störungen, somatopsychische Erkrankungen, Psychoonkologie und Essstörungen.

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