Der Klinikarzt 2019; 48(04): 113-114
DOI: 10.1055/a-0852-8732
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Eid oder Gelöbnis – Kein Mut zur eigenen Moral?

Winfried Hardinghaus
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Publication Date:
03 May 2019 (online)

Unser sogenannter Zunfteid, der Eid des Hippokrates, entstand aus seiner Zeit 450 J. vor Christus, unter anderem als Reaktion auf damalige Abtreibungspraktiken. Rein humanitäre, primär nicht religiöse Gesichtspunkte standen im Vordergrund. Allerdings hat das Gelübde durch das Christentum, später durch andere monotheistischen Religionen Hilfestellung bekommen und schließlich als Kern aller medizinischen Ethik Anerkennung gelangt.

Der erste Teil des Hippokratischen Eides enthält Abmachungen zwischen Lehrern und Schülern der Heilkunde, auch über die Verpflichtung des Schülers zur Weitergabe medizinischen Wissens, insgesamt eine Art Vertrag also.

Im zweiten Teil, dem eigentlichen Sittenkodex, werden die Bereiche der Diätetik, Pharmazeutik, Chirurgie und der generelle Umgang mit den Patienten angesprochen. Es finden sich allgemeine ärztliche Vorschriften wie die Abwendung jeglichen Schadens vom Kranken oder die Einhaltung der ärztlichen Schweigepflicht. Aus dem altgriechischen Text lässt sich ferner ableiten: „Ich werde niemandem, auch nicht auf seine Bitte hin, ein tödliches Gift geben und auch nicht einen Rat dazu erteilen.“ In einem Atemzug wird auch das ungeborene Leben angesprochen: „In gleicher Weise werde ich keiner Frau eine Frucht abtreiben.“

Ein Exemplar des Eides hängt seit rund 25 Jahren in meinem häuslichen Arbeitszimmer. ([Abb. 1]). Es wurde mir geschenkt vom damaligen Verleger des Hippokrates Verlages, Ehrenfried Klotz. Angefertigt wurde das Unikat von seiner Ehefrau Jutta in kunstvoll liebevoller Kleinarbeit (der Hippokrates Verlag ging übrigens im Jahr 1980 in den Georg Thieme Verlag über).

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Abb. 1 Der Eid des Hippokrates.

Und noch vor 25 Jahren schrieb der Münsteraner Gynäkologe Fritz K. Beller dazu: „Ich hoffe, dass die entscheidenden Passagen des Eides auch weiterhin Grundlage unseres ärztlichen Handelns sind; wenn sie es nicht mehr sind, möchte ich nicht mehr diesen Beruf ausüben.“ So weit zu gehen, würde ich persönlich nicht wagen. Doch glaube ich, dass einige Passagen aus dem Eid uns auch heute noch etwas geben können. Eine Belastung durch zu hohe ethische Anforderungen sehe ich eher nicht, eher vielleicht eine Entlastung, indem wir uns an bewährte Richtschnüre knüpfen mögen, ohne uns mit ihnen zu verstricken. Dies durchaus vor dem Hintergrund zunehmender ethischer Konflikte in unserem klinischen Alltag. Man denke an die Beeinträchtigung unserer Entscheidungen durch ökonomische Zwänge, an überlange Intensivbehandlungen, Patientenverfügungen (Autonomie) u.a. Gerade auch die derzeitige erneut aufgeflammte öffentliche Diskussion um den § 217 zur „Sterbehilfe“ unterstreicht die Bedeutung ethischer und ethisch-rechtlicher Problemstellungen.

In einem interessanten Interview mit dem Titel „Bröckelt der hippokratische Eid?“ (https://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/medizinethik/article/906459/zeitgeist-broeckelt-hippokratische-eid.html) fragt der fachjournalistische Kollege Christian Beneker bei 2 Medizinethikern an, nämlich beim Freiburger Giovanni Maio und beim Tübinger Urban Wiesing. Ersterer äußert standfest: „Der Eid enthält alles, was wir heute für die moderne Medizin brauchen. In seinen Grundfesten ist er nicht ergänzungs- oder revisionsbedürftig.“ Sein Gegenüber folgert vielmehr, dass es sich zwar um ein historisches Dokument handele, dieses könne jedoch nicht als zeitloses Dokument der Ärzteschaft stilisiert werden. „Denn wer unter den jungen Ärztinnen und Ärzten würde heute bei Apollon und Asklepios schwören, nicht zu schneiden?“ Diese Bemerkung, die auf das damalige Verbot des Schneiden von Blasensteinen bezieht, ist heute tatsächlich nicht mehr nachzuvollziehen.

Zur Beruhigung: Es handelt sich nach wie vor nicht um einen geschworenen Eid. Eine wie auch immer geartete rechtliche Bindung hat er schon gar nicht.

Schließlich aber sei in diesem Zusammenhang auf die Genfer Deklaration des Weltärztebundes hingewiesen, die aus dem Jahr 1948 stammt und 2017 erneuert wurde. Gern wird sie als die moderne Fassung des Hippokratischen Eides bezeichnet. Der Weltärztebund hat sich vorgenommen, bei seinen Jahrestagungen jeweils zu Beginn zusammen das Genfer Gelöbnis zu sprechen. Zur Nachahmung empfohlen sozusagen.

In einem YouTube-Interview vom Oktober 2017, veröffentlicht von der Bundesärztekammer, weist Präsident Frank Ulrich Montgomery zurecht darauf hin, dass in dieser neuen Version des Genfer Gelöbnisses erstmals und besonders die Patientenrechte zur Sprache kommen. In der Tat scheint dies doch ein ungewohnter Aspekt in einem Ärzteversprechen. Das Gleiche gilt für die hier aufgenommene Empfehlung an uns Ärztinnen und Ärzte, auch an die eigene Gesundheit zu denken. Montgomery empfiehlt hier bei YouTube jedem Arzt und jeder Ärztin, das Genfer Gelöbnis gleich am Anfang seiner/ihrer Laufbahn zu sprechen und zu überdenken, schließlich stehe es auch am Anfang der ärztlichen Berufsordnung. Letzteres ist richtig. Richtig ist aber auch, dass die Deklaration zwar ganz oben über der Berufsordnung steht, aber sie erscheint leer, ohne jeden Begleithinweis oder Umgangsempfehlung. Aufgrund meiner aktuellen Nachfrage bei der Bundesärztekammer gibt es von dort hierzu keine schriftlichen Kommentare. Scheuen wir etwa die eigene Courage? Gibt es gar ein Dilemma mit unserer eigenen Moral?

Wer sich von Ihnen, verehrte Leser, die vom Weltärztebund autorisierte Fassung der Genfer Deklaration in Erinnerung führen möchte, kann dem Link (https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/International/Deklaration_von_Genf_DE_2017.pdf) folgen. Gönnen Sie sich die Zeit und sprechen Sie einmal wieder im Kollegenkreis darüber, meinetwegen gern auch anderswo.