Pneumologie 2019; 73(08): 460-461
DOI: 10.1055/a-0857-7155
Buchbesprechung
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Eine radikale Kritik der Medizin

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Publication Date:
14 August 2019 (online)

„Es besteht kein Zweifel, dass die Art, wie die moderne Medizin in zu vielen Bereichen heute gelebt und betrieben wird, trotz aller Erfolge in einer Sinnkrise steckt. Diese Sinnkrise wird durch Fehler der Art und Weise, wie heute die evidenzbasierte Medizin gelebt wird, verursacht.“ Diese Thesen, die das abschließende Kapitel einleiten, bezeichnen die Hauptaussage des Buches. Prof. Nawroth, Direktor der Klinik für Innere Medizin, Endokrinologie, Stoffwechsel und Klinische Chemie an der Universität Heidelberg, legt eine Bilanz seiner Erfahrungen als Kliniker und seines Nachdenkens über die Methode der Medizin vor.

Seit einigen ist die evidenzbasierte Medizin unangefochten das Grundparadigma der medizinischen Forschung. Der Autor bestreitet keineswegs ihre Angemessenheit und Notwendigkeit im Grundsatz, sieht sie jedoch in einer eklatanten Schieflage: Denn sie liefert nur statistisch abgesicherte Studienergebnisse, fragt aber nicht nach der Relevanz dieser Ergebnisse für den einzelnen Patienten, ja verstellt systematisch den Blick auf diesen. Mehr noch: Schon die Fragestellungen der Studien orientieren sich häufig nicht am Wohl Erkrankter, sondern am größtmöglichen Potenzial zu behandelnder Kollektive. Im Schatten der unangefochtenen Evidenz werden Beobachtungsstudien ungeprüft durch Interventionsstudien zur Grundlage von Empfehlungen in Leitlinien. Messwerte bzw. Marker werden als Krankheiten missverstanden und Gegenstand von Interventionsstudien, ohne ihre physiologische Bedeutung untersucht zu haben. Studien werden an den falschen (selektierten) Kollektiven gemacht, Ergebnisse von Schwerkranken auf Leichtkranke, von jüngeren auf ältere Patienten ungeprüft übertragen. Im Ergebnis resultiert eine Medizin, die den Nutzen einer Therapie für den einzelnen Patienten nicht mehr bewerten kann, sondern mehr oder weniger kritiklos Interessen, Moden und Wunschdenken folgt. Der Autor identifiziert einen Geist der Hybris, der den Instinkt für die Komplexität der Zusammenhänge leicht verliert und darüber meist nicht nur Schiffbruch leidet, sondern durchaus auch Patienten schädigt.

Dieser Zustand wird im Hauptteil des Buches über ca. 140 Seiten eindringlich an Beispielen beschrieben. Sie kommen überwiegend aus dem Interessens- und Forschungsgebiet des Autors, der diabetologischen bzw. endokrinologischen Forschung, doch sind diese so ausführlich und plastisch geschrieben, dass jeder Kliniker problemlos Beispiele aus dem eigenen Interessensgebiet einfügen bzw. ergänzen kann. Das Debakel des von Intensivmedizinern hochgehaltenen Dogmas der strengen Blutzuckereinstellung im Schock, 2001 eingeführt und erst 2009 beendet, bezahlt mit einer erheblichen Übersterblichkeit, löst heute noch Kopfschütteln aus: Ein Laborwert wurde zum Zielparameter einer Intervention auf der Grundlage des Postulats der Kausalität, allein auf der Grundlage der Assoziation von erhöhten Glucose-Spiegeln mit erhöhter Letalität. Ein weiteres eindrückliches Beispiel ist die SPRINT-Studie, einer eigentlich sehr guten Studie, die aber dazu missbraucht wurde, neue Grenzwerte für die Blutdruckeinstellung aller Personen, also auch Gesunder ohne ansonsten erhöhtes kardiovaskuläres Risiko, abzuleiten, um obendrein zusätzlich durch keine Interventionsstudie gesicherte diätetische Empfehlungen zu geben.

Der Autor belässt es aber nicht bei (differenzierter) Kritik. Er versteht sein Buch als Anstoß zu einer „radikalen Umkehr“ des Denkens und Handelns in der Medizin. Die evidenzbasierte Medizin bedarf demnach einer Transformation zu einer „sinnorientierte[n] Medizin“, die ausgezeichnet ist durch Kenntnis der Methode von Studien (vor allem der Unterscheidung von Beobachtungs- und Interventionsstudien, Unterscheidung von Assoziation und Kausalität, Therapie von Krankheiten und nicht Messwerten) und die Frage nach der Relevanz des gefundenen Effektes (absolute versus relative Risikoreduktion, Unterscheidung Signifikanz und Relevanz für definierte Patientengruppen). Eine Planung und Durchführung, vor allem auch Auswertung von Studien unter Beachtung dieser Prinzipien gibt dem Kliniker die Daten an die Hand, mit denen er die Potenziale einer Therapie für den individuellen Patienten abschätzen und diesen kompetent beraten kann. Sehr eindrücklich ist das Beispiel eines Abstracts einer Studie aus dem New England Journal of Medicine, das im Original und in der Transformation nach den Regeln der sinnorientierten Medizin wiedergegeben wird; tatsächlich führt eine identische Methodik zu unterschiedlichen, im letzteren Fall patientenorientierten Folgerungen.

Das Buch ist bewusst in einem Stil gehalten, der um Allgemeinverständlichkeit bemüht ist, denn es geht dem Autor nicht um eine akademische Diskussion, sondern um den Anstoß einer Bewegung, die alle im Gesundheitswesen Beteiligten erfassen soll und möglichst auch von Patienten getragen wird. Die dargestellte Kritik der evidenzbasierten Medizin trifft ins Mark des aktuellen Medizinbetriebs. Sie ist weit entfernt von den typischen Jereminiaden über die angeblich sprachlose Medizin, die häufig an der Oberfläche der Probleme der Medizin heute bleiben. So sehr dem Konzept der sinnorientierten Medizin zuzustimmen ist, so erhebt sich doch die Frage, wie das Ethos, das einer solchen Medizin zugrunde liegen muss, begründet wird. Tatsächlich wird dieses vom Autor in seiner traditionellen Form fraglos vorausgesetzt. Dies ist jedoch um so zweifelhafter, als die Fehlentwicklung der evidenzbasierten Medizin ja nicht zufällig geschehen ist. Sie ist keineswegs nur Ausdruck eines methodischen Missverständnisses, sondern wesentlich auch einer Ökonomisierung der Medizin mit der damit einhergehenden Erosion des ärztlichen Selbstverständnisses als „unbedingtes Hilfsversprechen an den einzelnen Patienten“ (G. Maio). Dieses Problem scheint der Autor zu unterschätzen, was auch darin seinen Ausdruck findet, dass er wohl die Widerstände, die eine Aufforderung zur „radikalen Umkehr“ auf allen Ebenen des Medizinbetriebs notwendig erfahren muss, mit Appellen zu überwinden hofft. Soll aber eine sinnorientierte Medizin Einfluss gewinnen, muss flankierend sowohl eine Kritik der Ökonomisierung als auch eine Reflexion auf die Grundlagen des ärztlichen Ethos erfolgen.

Dessen ungeachtet bleibt dieses Buch ein Paukenschlag, erfreulicherweise aus einer deutschen Universität! Diesem sind viele Leser aus allen Bereichen des Gesundheitswesens, aber auch aus Patienten-Interessensgruppen und der Politik zu wünschen.

Prof. Santiago Ewig, Bochum