Z Geburtshilfe Neonatol 2019; 223(02): 113-114
DOI: 10.1055/a-0864-4184
DGPM-Mitteilungen
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Standpunkt – Die Welt der „-omics“: Alter Wein in neuen Schläuchen?

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Publication Date:
17 April 2019 (online)

Die Welt der „-omics“ hat in den letzten 15 Jahren Einzug in die Medizin gehalten. Der Begriff -omics ist eine Wortneuschöpfung aus dem Forschungsbereich der Biologie und dient als Oberbegriff für molekularbiologische Methoden (genomics, transcriptomics, proteomics, metabolomics, secretomics …), die auf -omic enden. Das Suffix -omics hat, wie so vieles in der medizinischen Terminologie, seinen eigentlichen Ursprung in der griechischen Sprache. Es wird von „ομική“ abgeleitet und bedeutet „weiblich“. Vielleicht ein weiterer Hinweis, dass die Zukunft der Medizin vom weiblichen Geschlecht bestimmt wird. Im Sanskrit steht „OM“ für „Vollkommenheit und Fülle“, was den ganzheitlichen Ansatz der neuen Technologien gut erklärt.

Mit der neuen Technologie werden bei jedem Patienten tausende von Merkmalen analysiert und es wird so versucht den individuellen Krankheitsverlauf zu charakterisieren. Die individuelle Betreuung von Patienten ist jedoch keine Erfindung der letzten Jahrzehnte, sondern war bereits bei den alten Griechen eine wesentliche Grundlage der Therapie. Neue diagnostische Möglichkeiten in den letzten 50 Jahren (Serumbiochemie, Chromosomenanalyse, Ultraschall, MRT-Diagnostik) haben Laborparameter in den Mittelpunkt der Betreuung gestellt, die aber meist nicht das Potenzial hatten, den individuellen Krankheitsverlauf zuverlässig zu erfassen. Es erfolgte häufig eine Therapie der Laborparameter. Zudem wurde der Patient durch die Spezialisierung der verschiedenen Fachgebiete in seine „Einzelbestandteile“ zerlegt – in dieser Zeit beherrschte jeder sein Spezialgebiet perfekt, aber kaum jemand war in der Lage, den „ganzen“ Menschen im Blick zu haben. Mit der zunehmenden Ökonomisierung ist das Wohl des Patienten weiter in den Hintergrund getreten. Es begann die Ära der „Ökonomics“ und diese Phase ist noch nicht abgeschlossen. Unspezifische diagnostische Methoden, Spezialisierung der Fachgebiete, finanzieller Druck sind nicht die idealen Voraussetzungen für eine optimale individualisierte Behandlung der Patienten. Da ist es natürlich wünschenswert, dass am Horizont neue Technologien auftauchen, die möglicherweise das Potenzial haben, das Gesundheitswesen zu revolutionieren. Oder handelt es sich nur um neuen Wein in alten Schläuchen, wechseln wir nur die Namen und alles läuft wie bisher?

Mit verschiedenen Technologien – eben den Genomics, Transcriptomics, Proteomics, Metabolomics, Secretomics – können nun molekularbiologische Prozesse untersucht werden, die uns ein neues Verständnis der Pathophysiologie von Erkrankungen erschließen. Neben der Verbesserung der Diagnose und Therapie wird möglicherweise auch eine zuverlässigere Prognoseeinschätzung möglich werden.

Die Onkologie war einer der ersten Fachbereiche, in dem gezeigt werden konnten, dass eine individuelle Karzinomtherapie die Therapieoption der Zukunft darstellt. Inwieweit könnte dies auch die Perinatologie betreffen?

So ist z. B. die Frühgeburtenvermeidung ein bislang ungelöstes Problem, hier konnte in den letzten Jahrzehnten kein wesentlicher Fortschritt erzielt werden. Man versuchte anhand von umfangreichen epidemiologischen Studien Ansatzpunkte zu finden, um eventuell von Ländern mit sehr geringer Frühgeburtenrate zu lernen. Man hat dabei aber meist übersehen, dass die Diagnose einer Frühgeburt nicht in allen Ländern gleich definiert ist. Ja es gibt sogar Unterschiede innerhalb eines Landes, da die Grenze zwischen extremer Frühgeburt und einem Spätabort scheinbar fließend ist und neben allgemeinen Definitionen auch von der Einschätzung des beteiligten Fachpersonals abhängig ist. Auch sind die Patientenkollektive nicht vergleichbar, da bislang keine Untersuchungen aus dem Bereich der „Omicstechnologien“ durchgeführt wurden. Dabei spielt bereits das Genom von Mutter und Kind eine entscheidende Rolle in der Entstehung der Frühgeburt. Die entscheidenden Veränderungen im Genom zu erkennen, wäre ein erster wichtiger Schritt, um die Risikogruppen besser zu erfassen. Eine genetische Variante des Progesteronrezeptors war möglicherweise eine Ursache für das Aussterben des Neandertalers, da die Kinder immer häufiger zu früh geboren wurden. Zusätzliche Veränderungen im Bereich der Proteomics, der Zellinteraktion und schließlich der Organfunktion zu erfassen, führt möglicherweise auch zu ganz neuen Therapieansätzen. Die vielschichtige Pathogenese der Frühgeburt wäre ein ideales Krankheitsbild für den Einsatz der Omicstechnologien. Ebenso ist das Amnioninfektionssyndrom immer noch ein völlig unverstandenes Krankheitsgebiet, es wäre sehr wünschenswert, hier eine zuverlässigere Einschätzung der drohenden Infektion des Feten zu erkennen, um entscheiden zu können, welche Schwangerschaft prolongiert werden kann und welche beendet werden muss. Auch für die Diagnose der Infektion von Frühgeborenen würden sich völlig neue Diagnose und Therapiemöglichkeiten ergeben. Die CRP-Analyse ist ein Parameter, der deutlich zu spät auftritt und den Krankheitsverlauf schlecht charakterisieren kann. Eine frühzeitige Erfassung einer drohenden Sepsis wäre sowohl für die Neonatologie als auch für die Geburtshilfe ein wesentlicher Baustein für einen optimalen Therapieerfolg. Eine Verzögerung des Therapiebeginnes erhöht die Mortalitätsraten dramatisch. Da eine genetische Disposition für die Entwicklung einer Sepsis vorhanden ist, wäre durch die Analyse des Genoms eine Erfassung der Risikogruppe möglich. Die Bestimmung von Transkriptomen ist technisch machbar und ohne Zweifel ist mit der Bestimmung der messengerRNA frühzeitig die Entwicklung einer Infektion vorhersehbar. Proteomics reflektieren den aktuellen Stoffwechselzustand des Organismus, wobei hier Analysen aus Blut und Urin möglich sind. Vor allem die Urinanalysen sind jederzeit problemlos möglich und sind dadurch vor allem in der Neonatologie von großer Bedeutung. Analysen aus dem Fruchtwasser könnten so möglicherweise frühzeitig eine Infektion anzeigen. Metabolomics spielen derzeit vor allem in der Lebensmittelindustrie eine große Rolle. Neben dem Einblick in oxidative Phosphorylierung, die Glykolyse und die Proteolyse ist mit der Erfassung der mitochondrialen Dysfunktion eine Beurteilung des Krankheitsverlaufes auf molekularer Ebene möglich.

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Prof. Dr. med. Franz Kainer, Nürnberg

Es gibt kaum ein Krankheitsbild in der Perinatologie, dass durch die umfangreichen Techniken der -omics nicht profitieren würde.

Prof. Dr. Jörg Hacker, Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat die Herausforderungen, die an uns in Zukunft gestellt werden klar formuliert: „Die neuen Möglichkeiten der Lebenswissenschaften stellen neue Anforderungen an die Ausbildung von Nachwuchswissenschaftlern, an die technische und informationstechnische Ausstattung und Vernetzung unserer Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen sowie an eine nachhaltige Infrastrukturförderung“.

Neben der Politik, die die finanziellen Möglichkeiten zur Verfügung stellen müsste, sind die Universitäten gefordert, Strukturen zu schaffen, die sich wissenschaftlich intensiver mit der Thematik befassen.

Die Omicstechnologien sind neuer Wein in alten Schläuchen, die Grundstruktur der menschlichen Physiologie wird sich dadurch nicht ändern. Aber die neuen Möglichkeiten werden die Diagnose und Therapiemöglichkeiten zweifelsohne revolutionieren.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr

Franz Kainer, Präsident der DGPM