retten! 2020; 9(02): 141-144
DOI: 10.1055/a-0951-1390
Mein Einsatz

Gasexplosion in Rettenbach

Nina Drexelius

Am 19. Mai 2019 explodiert in einem Einfamilienhaus in Rettenbach am Auerberg im Allgäu eingesickertes Flüssiggas – aus einer defekten Gasleitung in der Nähe des Hauses, wie sich später herausstellt. Das zweistöckige Haus wird dem Erdboden gleichgemacht, Nachbargebäude werden massiv beschädigt. Das Trümmerfeld wird für 24 Stunden zum Einsatzort für mehrere hundert Helfer, die sich zum ersten Mal mit einer solchen Zerstörung konfrontiert sehen.

Kommentar

von Sebastian Koch, Studiengangsleiter des Bachelor- und Masterstudiengangs Medizinpädagogik an der SRH Hochschule für Gesundheit in Gera und Mitherausgeber von retten!

Im vorliegenden Einsatzbericht muss ein besonderer Dank allen Einsatzkräften ausgesprochen werden, die ruhig, konzentriert und als gemeinsames Team auf Augenhöhe eine für alle „völlig andere“ Einsatzsituation strukturiert abgearbeitet haben.

Bei Explosionsverletzungen, egal welcher Ursache, handelt es sich um Verletzungen, die durch eine auf den Körper wirkende Druckwelle oder frei schleudernde Projektile verursacht werden. Grundsätzlich müssen allen ersteintreffenden Einsatzkräften vor Ort die damit verbundenen Gefahren für sie selbst, die Kollegen und Ersthelfer sowie die Patienten bewusst sein! Dabei ist insbesondere die Verantwortung der ersteintreffenden Kollegen hervorzuheben, gerade bei Einsatzsituationen unbekannter Ursache.

Allen im Einsatz tätigen Kollegen und Ersthelfern stellt sich immer wieder unbewusst die Frage: Handelt es sich um einen Unfall oder müssen wir mit einer absichtlich ausgelösten Explosion rechnen, die Verletzungen von einer Vielzahl von Menschen zumindest billigend in Kauf nimmt!? Ein Szenario, von dem wir in Deutschland zum Glück kaum betroffen sind, dessen Möglichkeit uns aber stets bewusst sein muss.

Im Allgemeinen muss bei Explosionsverletzungen mit einer Vielzahl polytraumatisierter Patienten gerechnet werden. Unterschieden werden

  • Primärverletzungen (etwa 70 % Explosionstrauma der Lunge),

  • Sekundärverletzungen (Projektile durch Explosion, Penetration durch Splitter/Glas),

  • Tertiärverletzungen (Druckwelle und damit Wegschleudern von Patienten mit traumatischer Amputation und stumpfen Traumata)

  • und Quartärverletzungen (Verbrennungen, Inhalationstrauma [Erstickung], Quetschungen [Gebäudeeinsturz], Verstärkung chronischer Erkrankungen [COPD, Asthma], psychische Störungen).

Neben der präklinischen Versorgung ist gerade bei komplexem Verletzungsmuster das interdisziplinäre Zusammenwirken aller Einsatzkräfte für eine optimale Patientenversorgung entscheidend. Die Versorgung derartiger Verletzungen weicht in Abhängigkeit von Art, Lokalisation und Ausmaß der Verletzung sowie den regionalen Versorgungsmöglichkeiten häufig von gegebenen Empfehlungen ab. Die unterschiedliche präklinische Ausrichtung derzeitiger Handlungsanweisungen und die teilweise nicht definierten Handlungsfelder aller am Einsatzort tätigen Einsatzkräfte sind dabei kritisch zu diskutieren.

Daher ist, neben einer besonnenen und auf Augenhöhe basierenden Einsatzkommunikation, ein besonderes Augenmerk auf eine professionelle Einsatznachbesprechung sowie Supervision zu legen. Die „bedrückende Stille“ am Einsatzort ist ein wesentlicher Hinweis für alle Beteiligten, auf die vielschichtigen Emotionen, Gedanken, Erlebnisse und Fragen aller am Einsatzort tätigen Einsatzkräfte zu reagieren und bereits im Vorfeld in regelmäßigen Übungen auf diese vorzubereiten. Wir alle sind Menschen und keine Maschinen.



Publication History

Article published online:
22 April 2020

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Stuttgart · New York