Nervenheilkunde 2019; 38(12): 965-969
DOI: 10.1055/a-0952-7208
Seelenkunde
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Verhaltensdispositionen I: Die biologische Perspektive

Markus R. Pawelzik
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Publication Date:
17 December 2019 (online)

Im psychiatrischen Diskurs ist ständig von Verhaltensdispositionen die Rede – allerdings ohne, dass die erkenntnistheoretischen Eigentümlichkeiten dieses „Dispositionalismus“ reflektiert werden. Wir verstehen generische psychologische Eigenschaften wie Temperament, Persönlichkeit, Appetenzen, Fähigkeiten, Reaktionsweisen oder Neigungen als Verhaltensdispositionen. Damit sind Verhaltensbereitschaften gemeint, die sich unter bestimmten Bedingungen auf eine typische, wiedererkennbare Weise manifestieren.

Die Standardinterpretation der Verhaltensdispositionen lautet: Verhaltensdispositionen sind regelhafte „kausale Potenzen“. Diese bestehen in physiologischen Mechanismen, die im Organismus angelegt sind, um die infrage stehenden Verhaltensmöglichkeiten „bei Bedarf“ zu realisieren. Solche Mechanismen sind dafür verantwortlich, dass wir sehen, gehen, verdauen und Schmerz empfinden können. Sie bestehen in Arrangements von Strukturelementen (z. B. Zellverbänden, Zellen, Molekülen), die auf regelhafte Weise interagieren, um die Manifestationen der Dispositionen „hervorzubringen“. Die Mechanismen, die unsere Verhaltensmöglichkeiten realisieren, sind dazu da, in bestimmten Situationen Bestimmtes „zu tun“. Sie implementieren zusammengenommen die Möglichkeiten des Organismus, sich adaptiv zu verhalten.

Es gibt gute Gründe, Dispositionszuschreibungen auf diese mechanistische Weise zu deuten. Zu den offensichtlichsten Gründen zählen, erstens, dass die kausale Rolle einer Verhaltensdisposition erfüllt werden muss. Von nichts kommt schließlich nichts. Da Dispositionszuschreibungen auf typische, regelhafte Manifestationen abstellen, wird ein zweiter Grund deutlich: Die anatomische Identität und die funktionelle Regelhaftigkeit des physiologischen Mechanismus dürfte für die Regelhaftigkeit der Manifestation der Verhaltensdisposition verantwortlich sein. Denn ähnliche Manifestationen sind am ehesten als Wirkungen ähnlicher Ursachen anzusehen. Dafür gibt es viele Beispiele – von den Reflexen, über den Einfluss diverser Hormonspiegel bis zur Steuerung der Schlafstadienwechsel. Zum Dritten schließlich haben Mechanismen den Vorteil, die Latenz von Verhaltensdispositionen zu erklären: Die jeweiligen Mechanismen „produzieren“ ihre Wirkungen nur, wenn sie zum Einsatz kommen. Wenn Mechanismen hingegen „stumm“ bleiben, dann entspricht dies der Latenz einer sich nicht manifestierenden Disposition.

Allem Anschein nach verfährt unsere intuitive Dispositions-Psychologie analog zur ausgeführten Dispositions-Physiologie: Wir verstehen psychologische Eigenschaften bzw. kategorisierbares Verhalten generell (!) als Ausdruck von Verhaltensdispositionen. Denn auch die Psyche wirkt mittels interner Verhaltensdispositionen von „innen nach außen“. Die unterschiedenen Persönlichkeitseigenschaften, Appetenzen, Reaktionsneigungen etc. „bewegen“ die Person zu einem bestimmten Verhalten. Damit folgt unsere Dispositions-Psychologie der Alltagspsychologie, die Verhalten als Handeln aufgrund innerer Bedingungen unter gegebenen Umständen begreift. Da sowohl die inneren als auch die äußeren Bedingungen ständig variieren, ist es naheliegend, trans-situational „stabiles“ Verhalten auf stabile Verhaltensdispositionen zurückzuführen.

Betrachten wir ein Beispiel: Warum hatte Hans gestern Abend einen Wutanfall? Nun, Hans gilt als temperamentvolle Person. Er war mit Lisa aneinandergeraten, die ihm, wie er meinte, ungerechtfertigte Vorwürfe machte. Trotz aufsteigenden Ärgers hatte er hin und her überlegt, wie er die Situation am besten bewältigen könne. Schließlich ist es ihm „zu bunt“ geworden – will sagen: Hans wurde von Wut „überwältigt“.

Alle psychologischen Eigenschaften in solchen Beispielen sind dispositionaler Art. Die mentalen Zustände, psychischen Strukturen und Prozesse, auf die wir erklärend verweisen, sind latente Verhaltensbereitschaften, die sich aus bestimmten Gründen manifestiert haben – dies aber nicht tun müssen: Man kann eine temperamentvolle Persönlichkeit sein und sich trotzdem bei Gelegenheit zurückhalten. Eine Person kann eine Situation je nach Umständen unterschiedlich erleben, auffassen und begreifen. Ein Gleiches gilt für die Denkfähigkeit einer Person, die ein breites Spektrum an Denkprozessen generieren kann. Und auch die Gefühlsreaktionen und deren Regulation variieren in Abhängigkeit von gegebenen Bedingungen. Es lohnt die Übung, einmal nach „nicht dispositionalen“– die Philosophen sagen: „kategorialen“ – psychologischen Attributen zu suchen: Gibt es psychologische Eigenschaften, die analog zu kategorialen Eigenschaften wie „Körpergröße“, „rot“ oder „dreieckig“ nicht situativ variieren, weil sie nicht davon abhängen, wie eine Person gerade „tickt“?

Ich werde im Folgenden einen kritischen Blick auf den Versuch werfen, die Physiologie menschlichen Verhaltens anhand von transsituational wirksamen Verhaltensdispositionen aufzuklären. Denn was im Falle robuster Organdispositionen etwa des Dickdarms oder der Schilddrüse gut funktioniert, erweist sich im Falle des Gehirns und seiner flexiblen Aktivität als extrem schwierig, was neben der Komplexität der Gehirnaktivität womöglich mit den folgenden theoretischen Problemen zusammenhängt:

  • Verhaltensdispositionen sind hypothetische Größen, die sich nicht direkt beobachten lassen. Sie lassen sich nicht anhand des Verhaltens „von außen“ beobachten, weil das Verhalten nur Merkmale der Manifestation, nicht aber Merkmale der Disposition selber aufweist. Und sie lassen sich nicht ohne Weiteres „von innen“ anhand der Aktivität physiologischer Prozesse beobachten, weil die Aktualisierung ihrer kausalen Rolle von den Umständen abhängt. Daraus folgt, dass Dispositionszuschreibungen im besonderen Maße theorie- bzw. interpretationsabhängig erfolgen.

  • Der hypothetische Charakter der Verhaltensdispositionen offenbart ein Dilemma: Einerseits sind Verhaltensdispositionen unumgänglich. Wir nutzen nun einmal Dispositionshypothesen, um Verhalten als Handeln zu verstehen und zu analysieren. Andererseits sind Dispositionshypothesen „zu billig“ zu haben: Die Art, wie wir Verhaltensdispositionen individuieren, lädt zu Willkür und Beliebigkeit ein. Dies liegt nicht zuletzt an der Tendenz, die Manifestationen einer (mutmaßlichen) Disposition als Beleg für die Erfüllung der kausalen Rolle der Disposition zu nehmen – wie es Molières Doktor vorgeführt hat.

 
  • Literatur

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