Fortschr Neurol Psychiatr 2019; 87(10): 538-539
DOI: 10.1055/a-0963-1419
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Tic-Störungen – Erkrankungen zwischen Neurologie und Psychiatrie

Tic-Disorder – A Disease between Neurology and Psychiatry
Jens Kuhn
,
Daniel Huys
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Publication Date:
18 October 2019 (online)

Von Beginn an verfolgt die Zeitschrift „Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie“ das titelgebende Ziel, Weiterentwicklungen beider Fachgebiete seiner Leserschaft im ausgewogenen Verhältnis anhand von Kasuistiken, Originalien und insbesondere Übersichtsarbeiten zu präsentieren.

Auch wenn durch zunehmende Komplexität beider Fachgebiete und Spezialisierungen auf Teilbereiche auf gesundheitspolitischer Ebene oftmals eine Entflechtung der Fachdisziplinen diskutiert wird (bspw. durch den Wegfall des „Fremdjahres“ im jeweils anderen Fachgebiet innerhalb der Facharztausbildung), so gibt es zweifellos Krankheitsfälle und -bilder wie Demenzen [1] und Autoimmunenzephalitiden [2], deren mannigfaltige Phänomenologie der Expertise beider Fachrichtungen gleichermaßen bedarf – und somit wieder die enge Verbundenheit zwischen den Gebieten Neurologie und Psychiatrie unterstreicht.

Weitere „Paradebeispiele“ für derartige Krankheitsentitäten sind die Tic-Störungen, die in dem vorliegenden Heft mittels einer CME-Übersichtsarbeit in den Fokus gerückt werden. Schnell, Weidinger und Musil geben mit ihrem Artikel u. a. einen Überblick über die Phänomenologie und bieten Hilfe bei der diagnostischen Einordnung von Tic-Störungen [3].

Neben der neurologisch-psychiatrischen Schnittmenge betreffen die Tic-Störungen zudem maßgeblich das Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dementsprechend gibt es Leitlinien-analoge Empfehlungen von Fachgesellschaften aus allen drei Fachgebieten, die zur Vertiefung des Wissens noch zusätzlich herangezogen werden können [4], [5].

Gewisse Besonderheiten von Tic-Störungen sind weiterhin unvollständig verstanden, z. B. das sog. Waxing und Waning (also die episodischen, zum Teil erheblichen Schwankungen im Ausprägungsgrad der Tics im zeitlichen Verlauf), die Übernahme von Tics von anderen betroffenen Patienten oder aber, warum es zu einer Häufung von sozial inkongruenten Tics kommt (z. B. im Rahmen der Koprolalie oder Kopropraxie).

Andere Aspekte der Tic-Störungen sind aktuell Gegenstand der detaillierten neurowissenschaftlichen Forschung (z. B. die Bedeutung des mit „Premonitory Urge“ bezeichneten Vorgefühls, das viele Betroffene vor dem Auftreten von Tics verspüren).

Das Phänomen, dass sich bei einer Vielzahl von Patienten die Tic-Symptome mit dem Übergang ins Erwachsenenalter zurückbilden, gibt einerseits vielen besorgten Eltern im kinder- und jugendpsychiatrischen Kontext Hoffnung, spricht aber auch für Nachreifungsvorgänge auf neuronaler Ebene. Jüngst konnte gezeigt werden, dass bei Patienten mit Tourette-Syndrom (der schwersten Ausprägungsform von Tic-Störungen) ein erhöhtes Risiko für metabolische und kardiovaskuläre Erkrankungen besteht, selbst wenn sie noch nicht mit antidopaminerg wirksamen Medikamenten behandelt wurden [6]. Dies ist insofern eine bedeutsame Feststellung, scheint es doch zu verdeutlichen, dass die anzunehmenden neuronalen Reifungsstörungen sich nicht nur auf das motorische System beschränken, sondern auch andere Hirnnetzwerke involvieren. In gewisser Analogie zur Schizophrenie werden auch beim Tourette-Syndrom immer wieder Dysregulationen der dopaminergen Transmission [7] diskutiert – wenngleich ganz anders geartet. Möglicherweise sind aber bei beiden Erkrankungen dopaminerg vermittelte Störungen des Belohnungs- und Lernsystems und damit assoziierte Beeinträchtigungen der Nahrungsaufnahme ursächlich für metabolische Störungen der Lebensspanne [8].

Diese Veränderungen der dopaminergen Transmission bei Patienten mit Tic-Störungen beeinflussen aber eben auch motorische Regelkreise zwischen Basalganglien und Kortex (sog. kortiko-striato-thalamo-kortikale Schleifen), deren Dysregulation für die Ausbildung der Kernsymptomatik, nämlich der Tics verantwortlich gemacht wird. Der CME-Artikel in dieser Ausgabe [3] liefert zu diesem Aspekt weitere Informationen und erläutert ferner, wie Tics mittels antidopaminerg wirksamer Psychopharmaka [9], aber auch durch die neuromodulative Behandlung mittels tiefer Hirnstimulation [10] therapeutisch beeinflusst werden können. Wir hoffen, dass Sie als Leser mit dieser Ausgabe der „Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie“ Freude und insbesondere reichhaltige Informationen zu den Tic-Störungen finden, damit Patienten mit derartigen Erkrankungen zukünftig nicht mehr, wie im Titel des Manuskripts postuliert, „unterversorgt“ bleiben.

 
  • Literatur

  • 1 Jessen F, Frölich L. ICD-11: Neurokognitive Störungen. Fortschr Neurol Psychiatr 2018; 86 : 172-177
  • 2 Bodatsch M, Kuhn J. Anti-NMAR-Enzephalitis - Mimikry der schizophrenen Erstmanifestation. Fortschr Neurol Psychiatr 2018; 86 : 125-134
  • 3 Schnell J, Weidinger E, Musil R. Fortschr Neurol Psychiatr. 2019: 87
  • 4 Pringsheim T, Holler-Managan Y, Okun MS. et al. Comprehensive systematic review summary: Treatment of tics in people with Tourette syndrome and chronic tic disorders. Neurology 2019; 92 : 907-915 .
  • 5 Roessner V, Plessen KJ, Rothenberger A. et al. European clinical guidelines for Tourette syndrome and other tic disorders. Part II: pharmacological treatment. Eur Child Adolesc Psychiatry 2011; 20 : 173-196
  • 6 Brander G, Isomura K, Chang Z. et al. Association of Tourette Syndrome and Chronic Tic Disorder With Metabolic and Cardiovascular Disorders. JAMA Neurol 2019; 76 : 454-461
  • 7 Maia TV. Conceição VA. Dopaminergic Disturbances in Tourette Syndrome: An Integrative Account. Biol Psychiatry 2018; 84 : 332-344
  • 8 Kuhn J, Baldermann JC, Huys D. Dysregulation of the Reward and Learning Systems in Tourette Syndrome. JAMA Neurol. 2019 , Jul 15. doi: 10.1001 / jamaneurol.2019.2027 [Epub ahead of print}
  • 9 Huys D, Hardenacke K, Poppe P. et al. Update on the role of antipsychotics in the treatment of Tourette syndrome. Neuropsychiatr Dis Treat 2012; 8 : 95-104
  • 10 Baldermann JC, Schüller T, Huys D. et al. Deep Brain Stimulation for Tourette-Syndrome: A Systematic Review and Meta-Analysis. Brain Stimul 2016; 9 : 296-304