Zeitschrift für Palliativmedizin 2020; 21(01): 1-2
DOI: 10.1055/a-0963-3907
Editorial
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Palliativmedizin und Schmerzmedizin – Vergangenheit und Zukunft

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Publication Date:
03 January 2020 (online)

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Michael Zenz

25 Jahre Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin, ein stolzes Jubiläum, zu dem man vor allem den Gründungsmitgliedern gratulieren muss, alles Ärzte und damit noch nicht repräsentativ für die multiprofessionelle Zielrichtung der Gesellschaft. Glückwunsch! Glück, im entscheidenden Augenblick Menschen mit Verstand und Seele zu haben, z. B. Prof. Heinz Pichlmaier. Man mag sagen, ausgerechnet ein Chirurg, der klassische Vertreter der kurativen Medizin. Aber Pichlmaier dachte damals schon über den Tellerrand hinaus. Zu diesem Jubiläum kann man deshalb auch fragen: Warum hat es eigentlich bis 1994 gedauert? Fast 30 Jahre vorher hatte Cicely Saunders bereits St Christopher’s Hospice gegründet, und 1973 hatte Balfour Mount – auch ein Chirurg – in Montreal Betten für Palliative Care umgewidmet.

Die heute etablierte Schmerztherapie mit Opioiden war lange von Vorurteilen und Ängsten geprägt. Es war 1957 geradezu revolutionär, als Bonica und Ventafridda, der spätere 1. Präsident der EAPC, den damaligen Papst Pius um eine offizielle Antwort baten: ist es erlaubt, einem Patienten am Lebensende gegen Schmerzen Morphin zu geben unter Inkaufnahme einer Lebensverkürzung (sog. Doppeleffekt). Der Papst bejahte dies in einer schriftlichen Note zum italienischen Anästhesiekongress ausdrücklich. Doch Angst und Vorurteile blieben. Es war die Not und der Schmerz der Patienten, die Cicely Saunders zur Gründung des ersten Hospiz führte. Damals nannte man Tumorschmerz noch „intractable“ – auch Saunders in ihrer ersten Publikation 1963 über Diamorphin (Heroin) zur Schmerzlinderung. Morphin wurde seinerzeit als oral kaum resorbierbar beschrieben. Die erste Arbeit zur Anwendung von oralem Morphin alle 4 Stunden in deutscher Sprache erschien 1983 in DER ANAESTHESIST (Robert Twycross).

Mit der Entdeckung der Opioid-Rezeptoren und den spinalen Opioiden kam etwas mehr Bewegung in die trostlose Situation für Tumorpatienten, endlich eine Therapie mit längerer Wirkungsdauer. Dann 1984 die Einführung von retardiertem Morphin. Aber ein BtM-Rezept durfte nur für jeweils einen einzigen Tag ausgestellt werden. Das erste deutsche Krebsregister entstand und enthielt kein Wort zu Schmerz oder anderen Symptomen. Die Deutsche Krebshilfe lehnte 1982 einen Antrag zum Thema Tumorschmerz ab. Begründung: Thema ist Krebsvorsorge und nicht Schmerz. Heinz Pichlmaier und vielleicht auch der Betroffenheit von Patienten war es zu verdanken, dass 1983 die erste Palliativstation innerhalb der Chirurgie zur Symptomkontrolle gegründet wurde. Noch 1985 wurde ein Arzt verurteilt, nur weil er das Datum auf einem BtM-Rezept korrigiert hatte. Ab 1986 durfte ein BtM-Rezept immerhin für eine Woche ausgestellt werden, die 1. Ausgabe von „Cancer Pain Relief“ (WHO) erschien, die deutsche Ausgabe 1988. Pichlmaier beschrieb zusammen mit Jonen-Thielemann und Zech 1988 in DER INTERNIST die ersten Jahre der Palliativstation. Der erste deutsche Onkologie-Ordinarius fand damals Morphin überflüssig und empfahl stattdessen palliative Chemotherapie zur Therapie von Schmerzen und Luftnot. Deutsche Krebskongresse vergingen bis 1992 ohne das Thema Schmerz. In den 80er-Jahren war Schmerztherapie ein Kampf gegen Windmühlen. Man mag einwenden, wie das auch ein prominenter Palliativmediziner getan hat, Palliativmedizin sei doch weit mehr als „humanistisch angereicherte“ Schmerztherapie. Richtig. Damals war aber Schmerzlinderung allein schon ein Riesenschritt für die Betroffenen. Und auch heute noch ist es interessant, einmal zu schauen, in welchen Facharztkatalogen das Wort Schmerz oder Palliativmedizin überhaupt vorkommt.

Wegen der unveränderten Defizite betonte der Bundesrichter Kutzer 1991 in DER SCHMERZ das „Recht auf Schmerzbehandlung“. Kutzer war 2007 auch Mitautor der ersten deutschen Ethik-Charta einer Fachgesellschaft (DGSS), die von Radbruch mit dem etwas missverständlichen Titel „Ethik für Anfänger“ kommentiert wurde. Es war der erste Versuch, auf Schmerztherapie als gesamtgesellschaftliche Aufgabe aufmerksam zu machen.

Für die weitere Entwicklung der Palliativmedizin war die ursprüngliche Definition „… Patienten, deren Krankheit nicht mehr kurativ behandelbar ist“ vielleicht etwas unglücklich, weil sie notwendige Begleitung zu weit zum Lebensende hin verschob. Die Definition der Palliativmedizin wurde 2002 geändert, „nicht mehr kurativ“ gestrichen, aber erst 8 Jahre später kam der berühmte Beitrag von Jennifer Temel zu „early integration“. Warum eigentlich „early“? Begleiten von Anfang an, „Sterbenlassen als Könnerschaft und Seinlassen als Leistung“, wie es Maio formuliert hat.

Schmerztherapie hat sich gewandelt und Palliativmedizin auch. Diagnose und Therapie sind auch soziale Interaktion. Schon 1977 hatte Engel das „bio-psycho-soziale“ Schmerz-Konzept in Science vorgestellt. Schmerztherapie heute ist nicht die Schmerzspritze oder Schmerzpille, sondern interdisziplinäre und multiprofessionelle Diagnostik und Therapie. In diesem Sinne Psychotherapie nicht erst, wenn Pillen nicht mehr helfen, Fragen nach Familie und Arbeitsplatz nicht erst, wenn Scheidung und Arbeitsplatzverlust drohen. Um dies im Sinne von Engel zu verwirklichen, ist eine multiprofessionelle Diagnostik – mehrere Disziplinen gleichzeitig bei der Erstuntersuchung – und eine interdisziplinäre Therapie – mehrere Disziplinen gleichzeitig notwendig. Jetzt kommt aber das Problem. So etwas gibt es im deutschen Leistungskatalog nicht. Gezahlt wird immer nur einer, z. B. der Arzt oder der Psychologe oder der Physiotherapeut. Realisierbar lediglich in Kliniken und Modellprojekten.

Analogie zur Palliativmedizin: Wo kommt unter dem Gedanken der bio-psycho-sozialen Erkrankung der Psychologe in der SAPV ins Spiel? Um für jeden Patienten unter diesem Verständnis mehr zu bieten als Arzt und Pflege, müssen sich Strukturen und Denken ändern.

„I have a dream.“ In den Köpfen ist der Wandel von der rein kurativen zur palliativen Medizin angekommen. Lebensqualität steht an erster Stelle. Alle Ärzte sind in die Palliativversorgung eingebunden. Der Psychologe ist so selbstverständlich, dass kein Patient oder Angehöriger mehr Angst haben muss, als verrückt abgestempelt zu werden. Die Seelsorge ist nicht nur für Katholiken und Protestanten da. Eine Supervision in der SAPV ist genauso Pflicht wie bei Psychologen heute schon. Wir Ärzte haben gelernt, dass unsere Patienten auch Psychologen oder Seelsorger brauchen, vielleicht auch wir selber. Das Kleinteilige der Entgeltsysteme weicht einem ganzheitlichen Denken.

Begleiten, zuhören, einfach da sein lässt sich nicht klonen. Palliativmedizin ist unersetzlich und unverzichtbar.

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Prof. em. Dr. med. Michael Zenz
Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft (DGSS) 2003–2007