Allgemeine Homöopathische Zeitung 2019; 264(05): 3
DOI: 10.1055/a-0969-8800
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Bönninghausen und die Physiognomie

Christian Lucae
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
25. September 2019 (online)

Die 1832 gegründete AHZ war bereits zu Hahnemanns Lebzeiten erschienen. Ihre Gründer – Rummel, Gross und Hartmann – hatten sich ein Stück weit von Hahnemann emanzipiert und wollten auch neue, eigene Ideen zur Sprache bringen. Viele weitere Herausgeberteams wechselten sich in den folgenden Jahrzehnten ab. Als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die sogenannte wissenschaftlich-kritische Richtung auch die AHZ dominierte, kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Rückbesinnung: Ein achtzehnköpfiges Team aus deutschen, österreichischen und Schweizer homöopathischen Ärzten, darunter Dorcsi, Gutmann, Imhäuser, Künzli, Römer, Voegeli u. a., wollte mit der Gründung der Zeitschrift für Klassische Homöopathie (ZKH) im Jahre 1957 einen neuen Schwerpunkt setzen und zu den „klassischen“ Features der Homöopathie zurückkehren. In den insgesamt 62 Jahrgängen der ZKH sind unzählige wegweisende Arbeiten erschienen, die unter verschiedenen weiteren Herausgebern (von Keller, Klunker, Gypser, Friedrich, Wegener, Genneper, Holzapfel, Dinges, Wischner, Minder u. a. ) erarbeitet worden sind.

Im Juni 2018 entschied der Haug Verlag, die ZKH aus wirtschaftlichen Gründen als eigenständige Zeitschrift einzustellen. In Abstimmung mit dem DZVhÄ wurde entschieden, AHZ und ZKH zu fusionieren. Dieser Zusammenschluss beider Zeitschriften ist nun ein Anlass, das Erbe der ZKH aufzunehmen und einige Besonderheiten in die AHZ zu integrieren: Dazu zählt die besondere Berücksichtigung der Homöopathiegeschichte und dazugehöriger, aktueller Publikationen, die regelmäßige, gründliche Besprechung und Analyse unserer Werkzeuge (Repertorien, Materia medica), der Methodik und der Fallanalyse, schließlich die Wiederaufnahme der Rubrik „Verifikationen“ (ab 2020). Mit dem aktuellen Schwerpunktheft zu Bönninghausen soll diesem Konzept Rechnung getragen werden: Neue Ergebnisse der Homöopathiegeschichte werden ebenso berücksichtigt wie aktuelle Weiterentwicklungen (Details dazu ab S. 10 in diesem Heft).

Die „Bönninghausen-Methode“ – benannt nach Hahnemanns bedeutendstem Schüler Clemens von Bönninghausen (1785–1864) – wird häufig als sehr analytisch, zahlenlastig oder auch als „reine Mathematik“ wahrgenommen. Dabei sollte man die anderem Facetten der Homöopathie, nämlich die genaue Beobachtung der Physiognomie, der Konstitution und die intuitive Zugangsweise aber nicht vergessen. Zwar ist von Bönninghausen wenig bekannt darüber, wie konkret sich dies in seinem Praxisalltag abbildete. Immerhin ist die folgende, anschauliche Anekdote überliefert, die Karl Julius Aegidi im Jahre 1860 in der AHZ (Bd. 60, S. 69) geschildert hat:

„Mein hochverehrter alter Freund, C. von Bönninghausen, wird sich vielleicht noch der vor beinahe 30 Jahren zu Düsseldorf miteinander verlebten heiteren Stunden und eines Tages erinnern, wo wir an der Table d’hote des damals Breitenbacher Hofes mit Musterung der Physiognomien, Geberden und dem Verhalten unserer meist uns unbekannten Tischgenossen beschäftigt, aus solchen Beobachtungen die Indication eines homöopathischen Arzneimittels zu finden uns den Rückschluß auf ein muthmaßliches Leiden zu ziehen versuchten. Eine mit dem Dampfschiffe eben eingetroffene holländische Familie war unter anderem der Gegenstand unserer Aufmerksamkeit. Der alte dicke Herr trank behaglich ein Schöppchen Wein nach dem anderen, ohne durch diesen reichlichen Genuß irgendeine Veränderung in seinem äußeren Verhalten wahrnehmen zu lassen. Seine hagere Gattin nahm sehr mäßig von ihrem mit Wasser gemischten Wein. ‚Bemerken Sie nur‘, sagte mein Freund, ‚wie das sehr bleiche Antlitz dieser Dame, nachdem sie kaum die Hälfte des Glases geleert, von einer hohen, bis zur Stirne sich erstreckenden Röthe mehr und mehr eingenommen wird; dieses Symptom indicirt Carbo vegetabilis, das specifische Mittel gegen ihre muthmaßlichen asthmatischen Beschwerden, woran sie, aus ihren kurzen Athemzügen zu schließen, zu leiden scheint. Und betrachten Sie nur, wie der daneben sitzende Knabe nach jedem Schluck des milden Moselweins sich schüttelnd zusammenfährt, als habe er einen bittern Schnaps genommen. Dies Zeichen indicirt Cina – er mag sie wohl nöthig haben.‘“

Hier wird deutlich, dass Bönninghausen Freude am Beobachten hatte, sich für die Physiognomie interessierte und mit der Homöopathie – auf der Grundlage gründlicher Materia-medica-Kenntnisse – gleichsam spielerisch umgehen konnte. Es ist zu wünschen, dass die Bönninghausen-Methode in diesem Sinne auch in Zukunft kreativ umgesetzt und weiterentwickelt wird.

Christian Lucae