Zeitschrift für Phytotherapie 2019; 40(06): 241-242
DOI: 10.1055/a-1015-5043
Editorial

Editorial

Jost Langhorst

Unser Gesundheitssystem steht am Beginn des 21. Jahrhunderts vor großen Herausforderungen. In Deutschland werden täglich 1000 000 000 € im Gesundheitssystem umgesetzt. Wir leisten uns eines der modernsten, technisiertesten und teuersten Gesundheitssysteme der Welt. Die Lebenserwartung der Deutschen (Männer) liegt aber im Vergleich zu anderen westlichen Ländern wie Frankreich oder Skandinavien am Ende des Rankings. Der Bedarf an naturheilkundlichen Konzepten war noch nie so groß: So gilt es unter anderem, naturheilkundliche Selbsthilfestrategien, Phytotherapie und Lebensstil in ganzheitlichen Konzepten zu adressieren und mit Hilfe eines salutogenetischen Ansatzes die Selbstwirksamkeit und die Selbstfürsorge der Patienten zu unterstützen.

Doch auch die Widerstände bei der Umsetzung mit dem Ziel, die Naturheilkunde nachhaltig in der Kassenmedizin zu verankern und damit zu verhindern, dass der Zugriff auf die Präparate und Konzepte nur abhängig vom Einkommen des Einzelnen möglich ist, waren noch nie so groß. Die historische Fehlentscheidung, ab 2004 die Phytotherapie aus der Erstattungsfähigkeit zu nehmen, wurde zwar seit 2012 theoretisch revidiert und in die Verantwortlichkeit der einzelnen Krankenkassen gegeben. Unser Gesundheitssystem befindet sich allerdings in einer tiefen Krise. Die Krankenkassen zeichnen sich aktuell in weiten Teilen durch eine defensive und innovationsfeindliche Grundhaltung aus. Die Phytotherapeutika, die in der Primärversorgung erfreulicherweise ihren festen Stellenwert haben, sind weiterhin nahezu komplett in den OTC-Bereich verlagert. Es gibt den geltenden Beschluss namhafter Krankenkassen, aktuell deutschlandweit keine Modellvorhaben zu genehmigen. Bei steigenden Personal- und Strukturkosten im Gesundheitssystem wird auch im nächsten Jahr der Erlöstopf des DRG-Systems um einen dreistelligen Millionenbetrag gekürzt und damit der ökonomische Druck auf die Krankenhäuser noch verschärft. Vor diesem Hintergrund meldet schon derzeit deutschlandweit wöchentlich eine Klinik Insolvenz an. Einer der Gründe hierfür ist, dass die nötige Strukturreform der Krankenhauslandschaft nicht aktiv von der Politik gestaltet, sondern indirekt und rein ökonomisch und damit weitgehend unabhängig vom Versorgungsbedarf durch den Geldfluss der Krankenkassen gesteuert wird. Dennoch gilt es auch in dieser Grundstimmung, Naturheilkunde, Phytotherapie und Integrative Medizin als feste Bestandteile auf allen Versorgungsebenen (ambulant, teilstationär und stationär) und akademisch in Forschung und Lehre im pluralistischen Gesundheitssystem in Deutschland zu erhalten und zu fördern. Trotz aktuell schwieriger Bedingungen in der Forschung sind zum Beispiel die Antibiotikaresistenzen oder das Mikrobiom zwei Forschungsfelder, in denen die Phytotherapie in Zukunft eine relevante Rolle spielen kann, wenn zeitnah entsprechende Initiativen gefördert werden.

Wie ein naturheilkundlich-integratives Versorgungskonzept sinnhaft im klinischen stationären Alltag umgesetzt werden kann, machen Frau Gabriel und ich in dem Ihnen vorliegenden Heft in der Kasuistik eines Patienten mit Colitis ulcerosa aus unserer Klinik für Integrative Medizin und Naturheilkunde am Klinikum Bamberg deutlich. Erst durch die Initiierung eines leitlinienkonformen integrativ-naturheilkundlichen Therapiekonzeptes unter Berücksichtigung phytotherapeutischer Therapieoptionen konnte der Patient in Hinblick auf seine Erkrankung nachhaltig profitieren. Dr. Mayer stellt mit seinem Beitrag zur Klostermedizin die starken historischen Wurzeln der Phytotherapie detailliert dar. Im Beitrag von Herrn Dr. Frank steht die sinnhafte und niedrigschwellige Darreichungsform von Phytotherapeutika als Tee im Mittelpunkt. Herr Prof. Melzig stellt mit der Eberraute das Pflanzenprofil einer in der aktuellen klinischen Versorgung weitgehend vergessenen Heilpflanze vor.

In Hinblick auf die Leitlinienarbeit steht unter anderem gerade die W3 Querschnittsleitlinie zu „Komplementären Verfahren in der Onkologie“ im Zentrum der Arbeit, in der die Phytotherapie ein wichtiges Kapitel darstellt. Es bleibt abzuwarten, für welche Phytotherapeutika auch die externe Evidenz ausreicht, um in einem Statement / einer Empfehlung Berücksichtigung zu finden. Die Arbeit geht in jedem Fall weiter – auf allen Ebenen!

Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Lektüre.

Jost Langhorst

Leitlinienbeauftragter der GPT

Chefarzt der Klinik für Integrative Medizin und Naturheilkunde, Sozialstiftung Bamberg

Stiftungsprofessur für Integrative Medizin der Universität Duisburg-Essen



Publication History

Article published online:
16 December 2019

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York

 
  • Literatur

  • 1 GBD 2017 Mortality Collaborators. Global, regional, and national age-sex-specific mortality and life expectancy, 1950-2017: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2017. Lancet 2018; 392 (10159): 1684-1735 DOI: 10.1016/S0140-6736(18)31891-9.