Balint Journal 2020; 21(01): 31-32
DOI: 10.1055/a-1030-0026
Leserbrief
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Leserbrief zu Wolfram Zimmermann „Zum Umgang mit Widerstand bin einer kontinuierlich arbeitenden Balintgruppe als „emotionaler Spielwiese“ – kritische Reflexionen nach über zwei Jahrzehnten“. Balint-Journal 2019; 20: 79–85

Joachim Stoffel
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Publication Date:
26 March 2020 (online)

Leserbrief zu Wolfram Zimmermann „Zum Umgang mit Widerstand bin einer kontinuierlich arbeitenden Balintgruppe als „emotionaler Spielwiese“ – kritische Reflexionen nach über zwei Jahrzehnten“. Balint-Journal 2019; 20: 79–85

Spannend – mehr als eben nur interessant – zu lesen für einen, dessen Sicht auf diese Reflexionen noch von ganz anderen Erinnerungen geleitet wird.

Als Quereinsteiger in die Balint-Leiter Tätigkeit – bis 2015 war ich hauptberuflich Zahnarzt, seitdem HP-Psychotherapie – versuche ich seit fast 3 Jahrzehnten den Blick auf die Patienten- und Mitarbeiterbeziehungen und die daraus resultierenden Nöte meiner eher handwerklich orientierten Kollegen (nachfolgend immer m/w) im Balint'schen Sinne zu erweitern. Neben einer etablierten aber altersbedingt eher von zunehmendem Ruhestand als von mangelnder Bereitschaft sich emotional einzulassen bedrohten Gruppe – darunter 4 unterschiedslos gut integrierte Kollegen mit DDR- bzw. Herkunft aus vormals sozialistischen Ländern – habe ich zusammen mit meiner Frau als „Co-“ einige Gruppen zwischen Kiel und Oberstdorf geleitet und Erfahrungen gesammelt – meist erfuhren wir zumindest Interesse, Engagement, Zuspruch ....

Und dann gibt es eine Ausnahme, die noch heute bei meiner Frau und mir regelrechte „Flash-backs“ hervorruft: ein Balintgruppen-Seminartag.

Diesem Seminar war der Versand einer schriftlichen Vorinformation zur Balintarbeit durch die Zahnärztekammer vorausgegangen. Umso bedauerlicher war für uns die dann unerwartete Erfahrung, dass gerade diejenigen, die sich in der Vorstellungsrunde noch „für alles offen und ohne bestimmte Erwartungen“ gezeigt hatten genau diejenigen waren, die das kritischste und destruktivste Verhalten zeigten, sowohl zu den Grundlagen der Balint- Arbeit selbst wie auch zu unserer Arbeitsweise, und – alle unsere STOP-Schilder überrennend – Einlassungen anderer Teilnehmer am despektierlichsten infrage stellten, was eine entsprechend attackierte Kollegin veranlasste, vorübergehend den Raum weinend zu verlassen und wohl letztlich bis zum Schluss in eine eher zurückgezogene abwehrende Position brachte, aus der wir sie trotz aller unserer schützenden Unterstützung nicht mehr ganz herausführen konnten.

Auffällig war dabei, dass 3 besonders kritische Teilnehmerinnen – nach der Mittagspause erschienen sie dann nicht mehr in der Gruppe – sich offensichtlich untereinander und auch die attackierte Kollegin kannten, was die Vermutung nahe legte, dass das auffällige widerständige Verhalten entweder einem gewissen vorbesprochenen Konsens entstammte oder hier ein Konflikt unter Kolleginnen am Ort eine neue Austragungsebene gefunden hatte.

Vor diesem Hintergrund war es eine außergewöhnliche Herausforderung, noch am Vormittag nach der Vorstellungsrunde und einem einleitenden PowerPoint gestützten Vortrag über die Grundlagen der Balintarbeit mit der praktischen Gruppenarbeit zu einem konkreten aus der Gruppe eingebrachten Fall zu beginnen.

Dazu kam – mehr noch als bei wohl jeder „Erstlingsgruppe“ auch sonst- eine gewisse Unsicherheit und Angst, sich mit einem eigenen Fall oder eigenen Ideen und mit einer so ungewohnten Arbeitsweise zudem noch mit Fähigkeiten wie „emotionale Intelligenz“ und „Intuition“ scheinbar spekulativ – weil in freier Assoziation ohne die gewohnte Sicherheit aus naturwissenschaftlichen harten Fakten – einzulassen.

Spürbar wurde auch hier neben einer gewissen distanziert bis fast feindseligen Haltung gegenüber uns, den „Besserwessis“ , dass dieses Misstrauen im Vergleich zu anderen Gruppen auch untereinander, ja sogar gegenüber eigenen Gefühlen überdurchschnittlich hoch war – es war eben ein auffälliges Mehr an jenem verständlichen Widerstand aller naturwissenschaftlich Ausgebildeten gegenüber dem so eben nicht Beweisbaren im Umgang mit allem Seelischen.

Unzufrieden waren jene Kollegen (m/w) dann dementsprechend auch darüber, dass es hier weniger um eine technisch perfekte zahnärztliche Versorgung – und womöglich Kritik an Fehlern! – gehen sollte als um das bewertungsfreie Wahrnehmen dessen, was da „Sand ins Getriebe“ von Arzt-Patient-Mitarbeiter-Beziehungen streut und um die daraus auftauchenden Chancen, die menschliche Not der Patienten bzw. eine zerstörerische Arbeitsatmosphäre in der Praxis in vertrauensvollen stützenden Beziehungen zu lindern und dadurch erst auch die Basis zu schaffen für eine gelingende zahnärztliche Versorgung „schwieriger“ und „psychosomatischer“ Patienten und eigene Zufriedenheit mit dem Beruf.

Kurzum: der Tag war in jeder Weise „einmalig“ , für mich schweißnass beendet, am Abend gemeinsam bei einer Flasche Wein den Stress des Tages lösend und wieder den sicheren Boden eines alten Bundeslandes unter den Rädern unseres Wohnmobils wissend … haben wir – zugegeben spekulativ – mögliche Ursachen diskutiert:

Geschlechts-, Sozialisations-, Alters-Unterschiede? – eine Art Generationskonflikt, wie ihn Herr Zimmermann als mögliche Erklärung andeutet? Mit einer Ausnahme waren alle Teilnehmer Frauen mittleren Alters aus teilw. unterschiedlichen Orten aber alle in eigener Praxis niedergelassen.

Ein „verschobener“ Ost-West-Konflikt – Abwehr der „Besser-Wessis“ ? Erziehung in einem überdurchschnittlich naturwissenschaftlich orientierten vorm. DDR-Schulsystem? Aufgewachsen in einer Gesellschaft, die stetig nach zu ahndendem Fehlverhalten sucht, in dem das offene Wort wohl überlegt und nie Fremden gegenüber angebracht war? Empathie-Defizite einstiger Krippenkinder, die ihre Seele schon als Kleinkinder vor sich und anderen verschließen mussten, um zuerst den eigenen und später auch den Schmerz anderer nicht mehr wahrnehmen und aushalten zu müssen? Menschen, die bisher Psychologie nur erlebten als etwas eher Hinterhältiges, um sie gefügig zu machen, sie zu optimieren, auszuspionieren, zu manipulieren …?

Es wäre auf der Ebene von Spekulationen geblieben, hätte nicht eine unserer Kolleginnen in unserer hiesigen Gruppe immer wieder aus ihren eigenen DDR-Erfahrungen geradezu traumatisierende Erfahrungen als Ursache dafür geschildert, wie sie noch heute als „gestandene“ Zahnärztin von Patienten und Mitarbeitern nahezu missbraucht und immer wieder retraumatisiert wird, und hätten nicht viele spätere Gespräche und Erfahrungen diese anfänglichen Hypothesen bestätigt.

Das alles soll keine Kritik, keine Infrage-Stellung der Gedanken von W. Zimmermann sein – jetzt zu allem Überfluss auch noch von mir, haben doch die Veränderungen in seiner Gruppe diesbezüglich schon genug spürbare Verunsicherung ausgelöst. – Vielmehr sollen es ergänzende Überlegungen sein, die vielleicht noch zu seinen Ausführungen passen – oder auch nicht, vielleicht auch nur damals berechtigt waren, vielleicht aber auch „transgenerationale“ Vorgänge widerspiegeln, denn die von W. Zimmermann erwähnten jungen Kolleginnen haben vermutlich die DDR selbst gar nicht mehr erlebt.