Aktuelle Urol 2020; 51(03): 217-218
DOI: 10.1055/a-1107-7212
Editorial

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Stephan S. Roth
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Prof. Dr. Stephan Roth

Kennen Sie Coronarchiv? [1] Historiker und Soziologen haben diese Plattform ins Leben gerufen und bitten die Bürger, ihre Erlebnisse, Gedanken, Photos und Erinnerungen rund um die Pandemie zu sammeln. Dadurch soll die veränderte Gegenwart dokumentiert und der Nachwelt erhalten bleiben. Eine bestechende Idee, deren Wert sicher erst in einigen Jahren und Jahrzehnten sichtbar wird. Denn so einen widerstandslosen "Shutdown" hat es noch nie gegeben.

Wenn wir Urologen etwas zum Coronarchiv beisteuern könnten, so sind es Bilder von leeren Praxisräumen, Notfallambulanzen und Krankenhausfluren und das über Wochen und Monate hinweg. Als Klinikarzt fragt man sich, wo all die Patienten geblieben sind? Reduzierte Sprechstunden, nur noch Notfälle und deutlich reduzierte Operationsprogramme. Als ob wir in den letzten Jahrzehnten Zuviel gemacht haben!? Vielleicht ist der Grund die Angst, so dass Erkrankte Termine absagen und Untersuchungen verschieben.

So wie Geschäftsmeetings mit zeit- und ressourcenfressenden weiten Anreisen auf einmal in effektive Videokonferenzen transformiert werden, zeigen sich aber plötzlich auch im Krankenhaus Änderungen, auf die man immer gehofft hatte, diese aber nicht steuern konnte. So gab es vor Corona in der urologischen Ambulanz einer großen Klinik wie in Wuppertal (mit einem Einzugsgebiet von ca. 400 000 Einwohnern) täglich mindestens bis zu 5 personalaufwendige Feuerwehrfahrten, nur um einen Katheter zu wechseln. Meist veranlasst durch Mitarbeiter der Pflegeeinrichtungen, die einen Notfall sahen, Zeitmangel hatten oder keinen niedergelassenen Kollegen erreichten. Alleine für Wuppertal kann man schätzen, dass diese begleiteten Katheter„fahrten“ die Beitragszahler pro Jahr geschätzt ca 1 Millionen Euro kosten. Es bleibt aber zu befürchten, dass diese Ressourcenverschwendung wieder auflebt, wenn Corona zu Ende oder ein Impfstoff gefunden ist. Oder es gelingt, in der Zwischenzeit die fragliche Versorgungslücke mit einer effektiveren und preiswerteren Maßnahme zu schließen.

Strukturell folgenreicher wird aber die Anordnung der Bundesregierung und der Länder sein, planbare Operationen zu verschieben, um Kapazitäten für Corona-Fälle frei zu halten. Um die Liquidität der Krankenhäuser zu gewährleisten, wurde ein Schutzschirm beschlossen, so dass die Krankenhäuser für jedes leer stehende Bett pro Tag 560 € erhalten. Ob diese Summe nun kostendeckend ist oder nicht und ob bestimmte Berufsgruppen in den Kliniken nun in Kurzarbeit gehen müssen oder nicht, ist eine komplexe Frage. Die muss an anderer Stelle auch mit Ökonomen erörtert werden.

Diese Anordnung der politischen Entscheidungsträger wird aber zu einem Paradigmenwechsel im Behandlungsprofil vieler Kliniken und mutmaßlich auch zur Schließung von Krankenhäusern führen. Seit vielen Jahren versuchen Gesundheitspolitiker mit dem Verweis auf die zu hohe Zahl an Krankenhausbetten in Deutschland die Rate der stationären Behandlungen zu senken. Zuletzt mit immer drastischeren bürokratischen Monstern seitens des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK, jetzt MD). Auf einmal ist alles anders. Nur wenn das Bett leer ist, bekommen die Kliniken die 560 Euro-Pauschale pro Tag aus dem Schutzschirm. Deshalb werden die Geschäftsführer mit ihrem ökonomischen Auftrag darauf achten, dass die Betten nicht mit erlösschwachen Fällen gefüllt werden. Sie werden als gering vergütete Fälle vermehrt ambulant erbracht, da das zusätzliche Erlöse zu der Pauschale des leeren Bettes bringt.

Da diese Schutzschirmphase aber mutmaßlich bis September andauern wird, ist es eine IDEALE „Real-World-Studie“, wie auch in Zukunft der Krankenhaussektor aussehen wird. Weniger Krankenhausbetten und mehr ambulanter Versorgung! Und die „Real-World-Studie“ wird vermutlich kaum wiederlegbare Fakten generieren. Das sich dadurch die verfügbare Anzahl der Ärzte und Pflegenden wieder „normalisiert“, ist übrigens ein glücklicher Begleiteffekt.

Etwas darf jedoch nicht übersehen werden: Wir Urologen behandeln rund 25 % aller bösartigen Erkrankungen. Deshalb hat unser Generalsekretär und Vorstandssprecher der Deutschen Gesellschaft für Urologie, Prof. Michel, gut agiert und öffentlichkeitswirksam klargestellt, dass die Vorgabe der Politik, den Medizinbetrieb bis auf Notfälle zu reduzieren, in Teilen kritisch hinterfragt werden muss. Einige Tumoroperationen können ein paar Wochen aufgeschoben werden. Wir müssen aber konstatieren, dass wir dieses Zeitfenster der Verschiebung ohne Progressrisiko zeitlich schwer definieren können. Da andererseits 95 % dieser operierten Patienten postoperativ auf keiner Intensivstation landen, blockieren sie auch keinem potentiellen Corona-Fall eine Therapieoption. Hier darf sich die stationäre Urologie trotz Corona-Krise nicht überflüssigerweise marginalisieren.

Die Umstrukturierung der operativen Leistungen in eine zunehmend ambulante Versorgung erscheint unaufhaltsam. Die Corona-Pandemie und die relativen Leerstände der Krankenhäuser übernehmen dabei die Rolle eines Katalysators.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
02. Juni 2020

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