Nervenheilkunde 2020; 39(07/08): 496-502
DOI: 10.1055/a-1134-9089
Gesellschaftsnachrichten
Kopfschmerz News der DMKG
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion zur prophylaktischen Behandlung der episodischen Migräne: Eine randomisiert kontrollierte Studie

Timo Klan
,
Andreas Straube
,
Karl Meßlinger
,
Bianca Raffaelli
,
Çiçek Wöber-Bingöl
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Publication History

Publication Date:
04 August 2020 (online)

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**** Seminowicz DA, Burrowes SAB, Kearsond A et al. Enhanced mindfulness-based stress reduction in episodic migraine: a randomized clinical trial with magnetic resonance imaging outcomes. PAIN 2020; doi: 10.1097/j.pain.0000000000001860

Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR) zur prophylaktischen Migränebehandlung bei Erwachsenen ist effektiv und teilweise wirksamer als ein herkömmliches Stressbewältigungstraining.

Hintergrund

Achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Therapieverfahren wie z. B. die achtsamkeitsbasierte Stressreduktion („mindfulness-based stress reduction“, MBSR) [1] oder die achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie („mindfulness-based cognitive therapy“, MBCT) [2] lassen sich als „Dritte Welle“ der Verhaltenstherapie verorten [3]. Diese Ansätze sind aus der klinischen Praxis und Forschung nicht mehr wegzudenken. Es liegen zahlreiche Studien zur Wirksamkeit bei den unterschiedlichsten Störungsbildern vor, das Anwendungsspektrum reicht von psychischen Erkrankungen (z. B. Angst- und affektive Störungen) bis hin zur unterstützenden Behandlung von Krebserkrankungen, Bluthochdruck oder Asthma. Die Befunde zur Evidenz sind sehr heterogen. Es finden sich teilweise leichte bis mittlere Effekte, wobei MBSR der „klassischen“ kognitiven Verhaltenstherapie in der Regel nicht überlegen ist. Zur Wirksamkeit von MBSR bei Kopfschmerz respektive bei Migräne liegen kaum Studien vor.


Zusammenfassung

In einer randomisiert-kontrollierten Studie wurde mit 98 Erwachsenen mit episodischer Migräne ein MBSR-Programm (Interventionsgruppe) oder ein herkömmliches Stressbewältigungstraining („stress management for headache“, SMH, aktive Kontrollgruppe) durchgeführt. Die Interventionen fanden im Gruppensetting statt und erstreckten sich jeweils über einen Zeitraum von 16 Wochen (erste 8 Wochen eine Sitzung pro Woche, zweite 8 Wochen eine Sitzung alle 2 Wochen), es wurden jeweils 12 Sitzungen zu je 2 Stunden durchgeführt. Durch die relativ lange Interventionsdauer sollte den Teilnehmern eine verbesserte Übungs- und Anwendungspraxis im Alltag ermöglich werden, woraus die Autoren das Attribut „enhanced“ für das MBSR-Programm ableiten. Die bestehende medikamentöse Behandlung (Prophylaxe sowie Akutmedikation) sollte unverändert weitergeführt werden.

Als primäres klinisches Outcome-Maß wurde die Veränderung der Kopfschmerztage von „Prä“ (Baseline) zu Woche 20 (= Interventionsende) definiert (Erfassung jeweils mit einem täglichen elektronischen Tagebuch über einen Zeitraum von 28 Tagen). Als sekundäre klinische Outcome-Maße wurden die kopfschmerzbedingte Beeinträchtigung (erfasst mit dem HIT-6), die durchschnittliche Kopfschmerzintensität, die Responder-Rate (≥ 50 % Reduktion der Kopfschmerztage von Prä zu Woche 20) und die Anzahl der Migränetage bestimmt. Alle Parameter (ausgenommen die Response-Rate) wurden außerdem zu Woche 10 (= Zwischenbilanz in der laufenden Therapie) und Woche 52 (= 1-Jahres-Follow-up) erhoben. Darüber hinaus wurden zur Darstellung potenzieller struktureller und funktioneller Veränderungen des Gehirns verschiedene Verfahren der Magnetresonanztomografie (MRT) angewendet. Auch hier wurde zwischen primären Outcome-Maßen (u. a. Aktivierung des linken dorsolateralen präfrontalen Kortex während einer kognitiven Aufgabe sowie Volumen der grauen Substanz in bestimmten Gehirnregionen) und sekundären Outcome-Maßen (Gesamtvolumen der grauen Substanz, Aktivierung durch Schmerzreize, Resting State Konnektivität der Insula) unterschieden.

Mit dem MBSR-Programm konnte eine signifikant höhere Reduktion der Kopfschmerztage zu Woche 10 sowie Woche 20 erzielt werden. So sank die Anzahl der Kopfschmerztage in der MBSR-Bedingung von durchschnittlich 7,8 (Baseline) auf 5,5 (Woche 10) bzw. 4,6 (Woche 20), während die Kopfschmerztage in der SMH-Bedingung von 7,7 (Baseline) nur auf 6,9 (Woche 10) bzw. 6,0 (Woche 20) sanken. Im 52-Wochen-Follow-up kam es allerdings zu einer gewissen Annäherung der Kopfschmerztage (SMH: 5,6; MBRS: 4,6), sodass der Unterschied nicht mehr signifikant war. Bei den sekundären klinischen Outcome-Maßen zeigten sich signifikante Unterschiede im Sinne einer Überlegenheit des MBSR im HIT-6 (Woche 20), in der Responder-Rate nach Woche 20 (SMH: 23 %; MBSR 52 %) und in den Migränetagen (Woche 10 und 20). Auf der Ebene der Bildgebung (MRT) konnten für die hier definierten primären Outcome-Maße (u. a. Aktivierung des linken dorsolateralen präfrontalen Kortex) keine Unterschiede zwischen den Interventionen beobachtet werden. Für die in diesem Kontext erfassten sekundären Parameter ergaben sich jedoch durchaus Unterschiede: Hier zeigte sich für die MBSR-Bedingung signifikant geringere Aktivierung in bestimmten Gehirnregionen bzw. bei bestimmten Aktivitäten, was von den Autoren als positiver Effekt dieser Intervention (im Sinne einer verbesserten „kognitiven Effizienz“) gewertet wird. Ähnliche Befunde liegen auch aus anderen Studien zu Effekten meditativer Verfahren vor.

Insgesamt zeigte sich das MBSR-Programm sowohl in einigen klinischen Parametern (v. a. Anzahl der Kopfschmerztage) als auch hinsichtlich bestimmter funktioneller Veränderungen des Gehirns (hier: geringere Aktivierung) im Vergleich mit einer aktiven Kontrollgruppe (SMH) überlegen. Die Autoren kommen daher zu dem Schluss, dass MBSR eine effektive Behandlungsoption zur Migräneprophylaxe ist.


Kommentar

Die Evidenz von verhaltenstherapeutischen Verfahren zur Migräneprophylaxe kann als gesichert angesehen werden. Allerdings ist nach wie vor unklar, welches verhaltenstherapeutische Verfahren bei welchem Migräne-Patienten wie und in welchem Ausmaß wirkt. Auch ist die Facette der achtsamkeitsbasierten Verfahren, die inzwischen einen wichtigen Bereich verhaltenstherapeutischer Interventionen darstellen, im Kontext der Migräneprophylaxe kaum untersucht. Von daher ist die vorliegende Studie ein wichtiger Beitrag zum Kenntnisstand über verhaltenstherapeutische Therapieoptionen bei Migräne. Es konnte gezeigt werden, dass ein achtsamkeitsbasiertes Therapieprogramm (MBSR) eine ernstzunehmende Alternative zu traditionellen verhaltenstherapeutischen Interventionen (Stressbewältigung) ist. Eine Stärke der Studie ist der für psychotherapeutische Interventionsstudien vergleichsweise große Stichprobenumfang. Des Weiteren imponiert der Ansatz, neben klinischen Parametern auch bildgebende Verfahren (MRT) zur Effektivitätsbeurteilung heran zu ziehen. Profitiert hätte die Studie noch von der Angabe von Effektstärken. Die Unterteilung in primäre und sekundäre Outcome-Maße wirkt zum Teil etwas sehr willkürlich. So erschließt sich u. a. nicht, warum die Messung von Woche 20 einen höheren Stellenwert als die von Woche 52 (in welcher die Maßnahmen ggf. erst ihre volle Wirksamkeit entfalten können) haben soll. Hilfreich wäre außerdem die Berechnung einer Responder-Rate für alle klinischen Outcome-Maße gewesen. Abgesehen von diesen kleinen statistisch-methodischen Schwächen kann die Aussagekraft der Ergebnisse als hoch bewertet werden. Die Studie liefert somit einen wichtigen Impuls, achtsamkeitsbasierte Verfahren in der Migräneprophylaxe zukünftig stärker zu berücksichtigen.

Timo Klan, Mainz