Der Klinikarzt 2020; 49(06): 244-245
DOI: 10.1055/a-1167-7287
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Künstliche Intelligenz in der Chirurgie

Dirk Wilhelm
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Publication Date:
29 June 2020 (online)

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

vor wenigen Jahren noch Science-Fiction hat uns künstliche Intelligenz (KI) quasi über Nacht überrannt und schickt sich nun an, auch die Medizin zu beflügeln. Der Wettlauf um die globale KI-Vorherrschaft hat begonnen und Milliardenbeträge werden investiert, auch in der Medizin [1], um nicht den Anschluss zu verpassen. KI verspricht in Bereichen, die von Daten und Informationen leben, durch Einsatz von komplexen Algorithmen und neuronalen Netzen Analysen mit einer Präzision und Geschwindigkeit zu meistern, wie es kein Mensch vermag. Berichte über neuronale Netze, die in wenigen Stunden Spiele erlernen [2] und das auf einem Niveau, welches dem von benannten Champions überlegen ist, so erwiesen für Schach [3] und das japanische Go [4], lassen befürchten, dass uns unsere eigene Technologie bald ersetzen wird. KI-Algorithmen interpretieren Röntgenbilder bereits heute auf Expertenniveau [5], [6] und erkennen Maligne Melanome mit einer beeindruckenden Spezifität und Sensitivität [7]. Es verwundert daher nicht, dass manch einer aufgrund dieser Studien um seinen Arbeitsplatz bangt.

Künstliche Intelligenz besitzt fantastische Anlagen für Prozesse die nach definierten Grundregeln ablaufen, etwa Schach, bei dem jeder Figur feste Züge zugewiesen sind, und bei klar definierten Prozessen, die in abgeschlossenen Systemen ablaufen und für die homogene Daten verfügbar sind (Bildanalyse) [8]. Aber auch darüber hinaus findet KI breite Anwendung, wie im Bereich der chirurgischen Robotik, in Form von Nahtrobotern und Kameraführungssystemen [9]. Nicht immer trifft die technische Innovation hierbei die Bedürfnisse, und auch wenn es durchaus wissenschaftlich interessant ist, welche Aufgaben durch KI gelöst werden können, sollten wir uns hierbei immer fragen, ob dies sinnvoll und vor allem ethisch vertretbar ist.

Nach § 223 Abs. 1 StGB stellt jeder chirurgische Eingriff eine Körperverletzung dar, und nur die persönliche Aufklärung und Einwilligung des Patienten entlastet von diesem Tatbestand. Der Hippokratische Eid (auch wenn er heute nicht mehr abgelegt wird) verpflichtet uns dazu, Kranken nicht zu schaden und ethisch zu agieren. Es ist schwer zu glauben, dass diese Verpflichtung und ärztliche Privilegien zukünftig an Maschinen und Computersysteme übertragen werden. Für viele KI-Anwendungen in der Medizin und vor allem in der Chirurgie fehlt schlicht die rechtliche Grundlage [10].

Aber stellt KI wirklich eine Bedrohung unseres Berufes dar? 1993 entwickelte Claude Berrou den sogenannten Turbo Code, ein Verfahren das Signalverluste während einer Funkübertragung auf das theoretische Minimum reduziert [11]. Er verwendete hierfür ein Bayesisches Netzwerk, eine Form der KI. Der Turbo-Code wird heute in jedem Handy benutzt, weltweit, und stellt sicher, dass wir unseren Gesprächspartner klar und deutlich verstehen. Turbo-Codes werden erfolgreich eingesetzt, da sie wirklich notwendig sind. Entsprechend sollten auch wir KI annehmen und dort einsetzen, wo sie tatschlich erforderlich ist.

Unser Berufsfeld hat sich in den vergangenen Jahren nicht nur positiv entwickelt. Dokumentationspflichten, Bürokratie, Multitasking, ständige Telefonate und Konferenzen prägen unseren Alltag und drängen den Patienten in den Hintergrund. KI bietet für viele dieser Probleme Lösungen an, etwa durch Spracherkennung [12], Entscheidungsunterstützung [13] und Komplikationserkennung [14]. Weitere sinnvolle Anwendungen sind in den Artikeln von Kleemann, Kranzfelder, Nickel und Hirsch aufgeführt.

Wir sollten die Entwicklung der KI als eine Möglichkeit sehen uns auf das zu fokussieren, was einen Arzt ausmacht. Wir definieren uns nicht über Leistungszahlen und OP-Durchsatz, sondern durch Menschlichkeit, Empathie und Fürsorge. Hierfür gibt es keine KI. KI ist in diesem Sinne eher als Chance denn als Gefahr zu sehen, wir müssen nur darauf hinweisen, an welcher Stelle sie von Nutzen ist.

 
  • Literatur

  • 1 https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/106583/Milliardenausgaben-fuer-Forschungsoffensive-in-Bayern-angekuendigt Zugriff am 10.5.2020
  • 2 Patel D, Hazan H, Saunders DJ. et al Improved robustness of reinforcement learning policies upon conversion to spiking neuronal network platforms applied to Atari Breakout game. Neural Networks 2019; 120: 108-115
  • 3 Hassabis D. Artificial intelligence: Chess match of the century. Nature 2017; 544: 413
  • 4 Silver D, Huang A, Maddison CJ. et al Mastering the game of Go with deep neural networks and tree search. nature 2016; 529: 484
  • 5 Gan K, Xu D, Lin Y. et al Artificial intelligence detection of distal radius fractures: a comparison between the convolutional neural network and professional assessments. Acta orthopaedica 2019; 90: 394-400
  • 6 Park S, Lee SM, Lee KH. et al Deep learning-based detection system for multiclass lesions on chest radiographs: comparison with observer readings. European Radiology 2020; 30: 1359-1368
  • 7 Phillips M, Greenhalgh J, Marsden H, Palamaras I. Detection of Malignant Melanoma Using Artificial Intelligence: An Observational Study of Diagnostic Accuracy. Dermatology Practical & Conceptual 2020; 10 (01) e2020011
  • 8 Floridi L. What the near future of artificial intelligence could be. In: The 2019 Yearbook of the Digital Ethics Lab. edn.: Springer 2020: 127-142
  • 9 Kassahun Y, Yu B, Tibebu AT. et al Surgical robotics beyond enhanced dexterity instrumentation: a survey of machine learning techniques and their role in intelligent and autonomous surgical actions. International journal of computer assisted radiology and surgery 2016; 11: 553-568
  • 10 O‘Sullivan S, Nevejans N, Allen C. et al Legal, regulatory, and ethical frameworks for development of standards in artificial intelligence (AI) and autonomous robotic surgery. The International Journal of Medical Robotics and Computer Assisted Surgery 2019; 15: e1968
  • 11 Berrou C, Glavieux A, Thitimajshima P. Near Shannon limit error-correcting coding and decoding: Turbo-codes. 1. In: Proceedings of ICC‘93-IEEE International Conference on Communications: 1993: IEEE 1993: 1064-1070
  • 12 Vail T, Shah R, Bini S. USING NATURAL LANGUAGE PROCESSING TO COLLECT CODED INFORMATION FROM PATIENTS UNDERGOING TOTAL HIP ARTHROPLASTY. In: Orthopaedic Proceedings: 2019: The British Editorial Society of Bone & Joint Surgery 2019: 25-25
  • 13 Walsh S, de Jong EE, van Timmeren JE. et al Decision support systems in oncology. JCO clinical cancer informatics 2019; 3: 1-9
  • 14 Samareh A, Chang X, Lober WB. et al Artificial Intelligence Methods for Surgical Site Infection: Impacts on Detection, Monitoring, and Decision Making. Surgical infections 2019; 20: 546-554