Allgemeine Homöopathische Zeitung 2020; 265(04): 3
DOI: 10.1055/a-1183-5970
Editorial

Sapere aude!

Leider werden Sie in diesem Heft Nachrufen begegnen. Wir Herausgeber von der AHZ trauern besonders um unseren Freund und Mitherausgeber Gerhard Bleul, der die AHZ sowie die Geschicke der deutschen Homöopathie in den letzten Jahrzehnten maßgeblich mitgestaltet hat. Wir werden seine ruhige, sachliche, genaue, aber auch diplomatische Wesensart genauso vermissen, wie sein profundes Wissen.

Wir trauern auch um unsere Kollegen Jörg Wichmann und Frank Kuhlmann-Custodis. Alle drei haben große Beiträge für die Homöopathie geleistet und sind viel zu früh von uns gegangen.

Was für eine Zeit! Monatelang hat uns das Coronavirus, entflohen mutmaßlich den chinesischen Fledermäusen und dann um die ganze Welt galoppiert, in seinem Bann (und in unseren Wohnungen) gehalten. Wie viele von uns haben sich daran abgearbeitet und versucht, sich zwischen den verschiedenen Meinungen und Zahlen eine eigne Meinung zu bilden!

In Deutschland sind wir wohl, im Vergleich zu anderen Ländern (ich schreibe dies im Juni 2020), mit einem hellblauen Auge davongekommen, und allmählich lernen wir, welche der Präventionsmaßnahmen am wirksamsten sind. Lernen mussten wir aber auch, dass in einer Zeit, in der technisch der Flug zum Mars möglich erscheint, wir als Menschheit von einem Fledermausvirus in die Knie gezwungen werden können, und ein Mangel an Papiermasken und Toilettenpapier möglich ist.

Wenn diese AHZ erscheint, ist noch Sommer, doch schon rückt auch der Herbst näher und die Frage nach einer zweiten Corona-Welle steht vor der Tür. Für viele homöopathische Hausärzte stellt sich die Frage, wie man hier unterstützen kann. In der homöopathischen Community hat es intensive Suchphasen und Diskussionen gegeben, nach epidemischen Arzneimitteln. Mehrere gute Arzneimittelkandidaten stehen zur Auswahl, und Daten werden systematisch gesammelt.

Es war aber auch zu bemerken, dass die Öffentlichkeit und unsere Ärztevertreter der Homöopathie gegenüber extrem wenig Verständnis aufbringen, sodass der Zentralverein sogar eine Corona-Stellungnahme verfasst hat. Was ich besonders auffallend finde: Die Stimme der Patienten ist in diesem Diskurs, der von Virologen, Epidemiologen und Politikern dominiert wird, kaum öffentlich zu hören. Dabei wissen wir, dass Patienten Vernünftiges tun und sich intensiv eine eigene Meinung bilden. Ein Problem dieser schnell voranschreitenden Epidemie ist es auch, dass die Erkenntnisse der Ausbreitung hinterherhinken, was bedeutet, dass wir erst später klüger sind. Ich bin schon neugierig, zu welchen wissenschaftlichen Schlussfolgerungen wir rückblickend im Jahr 2021 oder 2022 gelangen werden.

In dieser AHZ geht es überraschenderweise nicht (oder nur ganz am Rande) um COVID-19, sondern wir haben uns für „kleine“ und wenig bekannte Arzneimittel entschieden. In den vielfältigen und interessanten Beiträgen unserer Autoren werden Sie vielen „small remedies“ begegnen, und wir wünschen Ihnen viele neue Entdeckungen beim Lesen und Studieren. In diesem Heft haben wir uns entschieden, Ihnen einen Beitrag in englischer Sprache anzubieten. Wir werden internationaler.

Abschließen möchte ich, in dieser schwierigen Zeit mit vielen widersprüchlichen Meinungen und aufwogenden Emotionen, mit dem provokanten Leitspruch der Aufklärung (und der Homöopathie): „Sapere aude!“ (Homöopathie „aude sapere“) – übersetzt nach Immanuel Kant: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

Michael Teut



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Article published online:
03 August 2020

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