Tierarztl Prax Ausg G Grosstiere Nutztiere 2020; 48(05): 289
DOI: 10.1055/a-1220-1524
Editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser, …

Elke Rauch
,
Michael Erhard

Tierschutz beim Rind – Grenzen und Möglichkeiten

Die Haltung landwirtschaftlicher Nutztiere steht vor großen Herausforderungen. Insgesamt wurde in Deutschland hinsichtlich der Verbesserung des Tierwohls im Bereich der Rinderhaltung in den letzten Jahrzehnten viel erreicht. Insbesondere die Laufstallhaltung von Milchkühen hat sich als tierfreundliches Haltungssystem in vielen Betrieben durchgesetzt.

Verschiedenste Standesvertretungen und Interessensverbände (z. B. Bundestierärztekammer [BTK], Internationale Gesellschaft für Nutztierhaltung [IGN], Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz [TVT], Deutscher Tierschutzbund) fordern seit Jahren verbindliche Regeln für die Haltung von Rindern. In Abschnitt 2 der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung (TierSchNutztV, 2006) sind lediglich Anforderungen an das Halten von Kälbern genannt und Maßgaben für die Haltung von Rindern wie Milchkühen, Mastrindern sowie Tieren in Mutterkuhhaltung fehlen gänzlich. Aufgrund des Defizits an konkreten Haltungsanforderungen für Rinder wurde in Deutschland die Dringlichkeit gesetzlicher Maßstäbe für die Haltung von Rindern auch in einem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft konstatiert (2015). Vor diesem Hintergrund erarbeitete der Ausschuss für Agrarpolitik und Verbraucherschutz des Bundesrates Anfang 2020 entsprechende Empfehlungen hinsichtlich einer Änderung der TierSchNutztV. Bisher blieben die Vorschläge des Bundesratsausschusses jedoch leider unberücksichtigt.

Neben dem Wunsch nach konkreten Haltungsanforderungen steht die ganzjährige Anbindehaltung seit vielen Jahren in der Kritik. Das dauerhafte Anbinden von Rindern erlaubt den Tieren keine artgemäße Bewegung und schränkt auch andere Grundbedürfnisse wie Komfortverhalten, Erkundungsverhalten oder Sozialverhalten entweder ein oder verhindert die Ausübung vollständig. Die ganzjährige Anbindehaltung von Rindern ist somit mit beträchtlichen Nachteilen für das Tierverhalten und die Tiergesundheit verbunden und damit tierschutzrelevant.

Wenn Grundbedürfnisse anhaltend zurückgedrängt werden, leiden Tiere erheblich. Dies stellte die EU-Kommission bereits im Zusammenhang mit der Legehennenhaltung in Käfigen fest. Vor diesem Hintergrund sollte zeitnah ein Verbot der ganzjährigen Anbindehaltung von Rindern mit entsprechenden Übergangsfristen erfolgen und bis dahin Kompromisslösungen gesucht werden. Selbstverständlich sollte zukünftig auch auf die Haltung von Mastbullen auf reinem Vollspaltenboden verzichtet werden.

Allerdings bedürfen die betriebsindividuellen Risiken und der Optimierungsbedarf der Haltungsbedingungen von Rindern in den Betrieben immer einer Einzelfallbetrachtung. Der Tierarzt kann und muss bei der Analyse der Schwachstellen und der Umsetzung der zu treffenden Maßnahmen im Einzelbetrieb zukünftig eine Schlüsselposition einnehmen. Auch die durch das Tierschutzgesetz geforderte betriebliche Eigenkontrolle kann zukünftig zu einer wesentlichen Verbesserung der Haltungsbedingungen in den Betrieben beitragen.

Alle Maßnahmen zur Verbesserung des Tierwohls beim Rind sind mit höheren Investitions- und Folgekosten verbunden, die sich für den Landwirt rechnen müssen. Demzufolge sind die Politik, der Handel und der Verbraucher gefordert, die Grundvoraussetzungen dafür zu schaffen. Ein dauerhaft niedriger Milchpreis ist nicht weiter zu verantworten.

Das vorliegende Themenheft zum „Tierschutz beim Rind“ beinhaltet verschiedene Forschungsprojekte, die nicht das gesamte Themenfeld abdecken können. In den einzelnen Studien ließ sich zeigen, dass Verbesserungen notwendig und auch umsetzbar sind. Möge der eine oder andere Artikel zur zukünftigen Verbesserung der Rinderhaltung beitragen.

Elke Rauch und Michael Erhard
(beide Lehrstuhl Tierschutz, Verhaltenskunde, Tierhygiene und Tierhaltung der LMU München sowie Leiter des Arbeitsgebietes Tierschutz, Ethologie und Tierhaltung der DVG)



Publication History

Article published online:
20 October 2020

© 2020. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany