Zeitschrift für Palliativmedizin 2021; 22(01): 1-2
DOI: 10.1055/a-1256-3126
Editorial

Ethische Politikberatung – ein Verweis auf die Freiheit zur Verantwortung

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Susanne Breit-Keßler

Anders als es ihnen immer wieder vorgeworfen wird, sind Politiker in unserem Land mehrheitlich weder arrogant noch gleichgültig gegenüber dem, was Menschen bewegt. Sie sind selbst welche, haben Familien und Freunde. Die, die ein politisches Mandat haben, machen sich Gedanken. Sie fragen bei denen nach, die möglicherweise Orientierung für nötige Entscheidungen anbieten können: Theologen, Ethiker, Philosophen und Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen.

Um Beratung wird gebeten bei Menschen, denen die Politiktreibenden zutrauen, dass sie Maßstäbe haben für konkretes Handeln. Von denen sie erwarten, dass sie nicht Sachzwängen unterliegen, sondern Grenzen überschreiten können im Blick auf eine andere, bessere Welt. Wer in der Politik arbeitet, kann und will das im Prinzip selbst auch – aber manchmal möchte man sich wie jeder Mensch vergewissern, sich klugerweise auch infrage stellen lassen und neue Anregungen bekommen. Das ist die eine Seite.

Zugleich sind die, die um Rat gefragt werden und beraten, dann geistreich zu nennen, wenn sie sich mit ihrer Meinung selbst nicht als unangreifbar betrachten. Ethische Politikberatung ist ein Verweis auf die Freiheit zur Verantwortung. Die Vielfalt von Überzeugungen muss beachtet und bedacht werden. Die Beratenden müssen Freude daran haben, auf andere zu hören, über ideelle Werte nachzudenken, sich mit klugen Argumenten in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen und den Austausch kultivieren zu können.

Wer berät, sollte zwischen politischem Mandat einerseits und ethischem Diskurs andererseits unterscheiden. Politiktreibende und Ethiker haben unterschiedlich Verantwortung wahrzunehmen für das Gemeinwesen. Ihr gemeinsamer Dialog muss Teil einer breit angelegten Kommunikation sein. In diese Kommunikation hinein gehören Erfahrungen und Kompetenzen verschiedenster Menschen – in Fragen von Krankheit und Sterben etwa die der Ärzte und Forscher, der Pflegekräfte, der zahlreichen weiteren Involvierten aus den verschiedenen Berufsgruppen, der Kranken, Sterbenden und ihrer An- und Zugehörigen.

Kommunikation auch in der Krise muss Vertrauen stiften. Sie begnügt sich deshalb nicht mit Anordnungen oder Gesetzen, sondern beantwortet aktuelle und perspektivische Fragen. Sie erklärt, welche Fragen noch nicht beantwortet werden können – und weshalb. Sie legt vollständig offen, wie und warum Entscheidungen getroffen werden. Sie widersteht der Versuchung, Solidität und Präzision zu opfern, um schnell zu sein. Beratung, das weiß jede Schwester, jeder Pfleger, das wissen Ärzte und Mediziner, braucht Zeit.

Schließlich soll lebensdienlich sein, was am Ende der Überlegungen steht – etwa zum freiwilligen Verzicht auf Flüssigkeit und Nahrung. Wer Politiktreibende berät, ist selbst gut beraten, Leitbilder der Bibel zu reflektieren. Sie geben manchmal „anstößige“ Hilfestellung, um entscheidende Fragen der Individual- und Sozialethik zu beantworten. In der Beratung von Mandatsträgern zum Lebensende spielen eigene Erfahrungen und Hoffnungen eine sehr große Rolle – etwa: Wie ist die Mutter gestorben, wie der Opa? Wie möchte man selbst gehen?

In der aktuell geführten Debatte über den assistierten Suizid gibt es wieder eine scheinbar ehrenwerte Motivation. Man will Menschen vollkommene Autonomie ermöglichen – und ihnen „unnötiges“ Leid ersparen. Ersparen wollen manche sich selber etwas: Die Mühsal der Auseinandersetzung mit Leiden und die liebevolle Begleitung der Schwerkranken und Sterbenden. Die Wurzeln der Humanität sind aber nicht vermeintlich totale Selbstbestimmung, sondern die Weisheit und die Einsicht, dass niemand zu jeder Zeit vollkommen Herr oder Frau seiner selbst ist.

Der Bundesgerichtshof hat festgelegt, dass ein Mensch in jedem Alter, in jeder Situation das Recht hat auf Assistenz beim Suizid. Wer jetzt Politiker berät, die diese Aussagen in Gesetzesform bringen müssen, hat viel zu tun. Man muss ernst nehmen, was oberste Richter bestimmen. Aber es gibt Menschen, die sich fürchten – vor dem Druck, Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu sollen, weil sie anderen „zur Last fallen“. Ich selbst mache mir Gedanken auch um junge Leute oder depressive Menschen, die den Gedanken an Suizid mit sich tragen.

Ein kommendes Gesetz muss bedenken: Leben ist anvertraut und muss geschützt werden. Es darf nicht verzweckt, instrumentalisiert oder aufgrund ökonomischer Interessen zur Disposition gestellt werden. Welches Verhältnis zwischen Autonomie und Fürsorge ist zu bedenken? Inwiefern spielt Sterben als soziales Geschehen eine Rolle? Welche Bedeutung kommen kulturellen Traditionen und religiösen Aspekten zu? Was wird aus der Gesellschaft, wenn wir so oder anders entscheiden? Wie ändert sich das Verständnis von Menschenwürde, wenn manches Leben nicht mehr als lebenswert erscheint?

Politiker hören mit ihrer Lebenserfahrung aufmerksam hin, wenn man sie dazu ins Gespräch „holt“. Sie geben sich als Person hinein in den Austausch. Vielleicht nicht in der Öffentlichkeit – dazu werden sie zu oft Opfer von verbalen Attacken. Aber im Gespräch haben auch sie den Raum, sich selbst zu öffnen. Zu erzählen, zu fragen, zu reden, zu hören. Sie verstehen: Ethik ist nichts für gefühlsdusselige Stunden. Sie ist das Leben selbst. Mir liegt zumal in Zeiten der Corona-Pandemie zutiefst am Herzen, dass wir das auch im Bayerischen Ethikrat im Blick haben.

Es gilt jetzt noch mehr, Leben zu schützen, die Triage zu vermeiden, behutsam mit uns allen umzugehen und dieses kostbare, zerbrechliche Leben zu achten. Diese Gesellschaft ist dann human, wenn sie sich achtsam der Ankunft und dem Abschied im Leben zuwendet. Die Option für das Leben gilt zuletzt. Wie Dame Cicely Saunders (*22.7.1918, †14.7.2005) sagte: „Sie sind wichtig, weil Sie eben Sie sind. Sie sind bis zum letzten Augenblick Ihres Lebens wichtig, und wir werden alles tun, damit Sie nicht nur in Frieden sterben, sondern auch bis zuletzt Leben können.“

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Regionalbischöfin i.R.
Susanne Breit-Keßler
Vorsitzende Bayerischer Ethikrat
Textilbotschafterin Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)
Vorsitzende Kuratorium „7 Wochen ohne“.



Publication History

Article published online:
22 December 2020

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