Balint Journal 2020; 21(04): 126
DOI: 10.1055/a-1301-2904
Leserbrief

Leserbrief

Johann Eichfelder

Das 3. diesjährige Heft des Balint-Journals hat mich sehr positiv überrascht, finden sich doch dort drei besonders interessante Artikel.

Der Artikel von Häfner/Doering/Gil revidiert das Konzept der compliance, an dem wir Balintianer uns schon lange abarbeiten und damit auch die Residuen der früheren Einpersonen-Psychologie, in der der Analytiker schon alles wusste, was der Patient noch immer nicht sehen konnte: Hier zeigt sich wie sehr auch die Tiefenpsychologen dem Zeitgeist unterlagen, wenn sie mit dem blinden Fleck der patriarchalen Gesellschaft den partnerschaftlichen Aspekt der Arzt-Patienten-Beziehung nicht sehen konnten.

Der kurze und gehaltvolle Artikel von Rüth und Holch nimmt sich nicht nur einer wesentlichen Seite der analytischen Theorie an, sondern beantwortet die Frage nach dem Nährwert für die Balintarbeit: Es ist die Fähigkeit der Gruppe, die unterschiedlichen Sichtweisen der Teilnehmer nicht nur zu integrieren, sondern allen Teilnehmenden die Möglichkeit der Selbstreflexion im Spiegel der Anderen zur Verfügung zu stellen, in dem sie die verschiedenen Sichtweisen integriert und containt.

Herr Herzog nimmt sich eines besonders wichtigen Themas an, der Strukturierung der Setting-Variablen oder wie er schreibt der Operationalisierung der Umgebungsmatrix. Es leuchtet unmittelbar ein, dass die Umstände und Bedingungen, unter denen Begegnungen stattfinden, die Erlebnistiefe und -intensität beeinflussen und damit die Möglichkeit von Beziehungsklärung.

In dankenswert offener Weise schildert Herr Herzog seine Erfahrungen mit unterschiedlichen Bedingungen der Balintarbeit in Kliniken oder in freier Praxis und seine daraus entwickelten Strukturierungen, unter denen er das Niveau der Ernsthaftigkeit hervorhebt, das eine Beliebigkeit und Unverbindlichkeit ausschließt. Darin unterscheidet sich die Balintarbeit in keiner Weise von der analytischen und tiefenpsychologischen Arbeitsweise, die ja ebenfalls nur gedeihen kann, wenn neben einer sicheren Raum-Zeit-Struktur auch verbindliche äußere Bedingungen festgelegt werden und sich alle Beteiligten dies ein Engagement kosten lassen.

Ergänzend möchte ich allerdings bemerken, dass die Anerkennung von Balintarbeit in den verschiedenen Bundesländern bzw. Ärztekammern auch vom äußeren Setting abhängt. Zumindest in Bayern wird nur kontinuierliche Balintarbeit anerkannt, nicht jedoch größere Blocks oder gar Wochenend-Marathons, denen ja ein wesentliches Merkmal der Balintarbeit abgeht, nämlich die Verlaufsbeobachtung nicht nur des jeweiligen Falles, sondern auch der Teilnehmer im Erleben der patientenbezogenen Selbsterfahrung: Sie sollte dem Helfer zeigen, dass Helfen kein einfaches Geschäft ist, und eine gute und sichere Struktur erst Hilfe möglich macht.



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Article published online:
01 December 2020

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