Zeitschrift für Palliativmedizin 2021; 22(01): 27-32
DOI: 10.1055/a-1320-5030
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Doppelkopf: Christoph Gabl und Ingrid Marth

Christoph Gabl

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Zur Person

Ich wurde am 10. Mai 1959 in Innsbruck geboren. Ich bin Vater einer fast 14-jährigen Tochter namens Judith, wobei mir die Begegnungen mit ihr im Alltag große Freude bereiten, besonders die interessanten und teils fordernden Gespräche und Diskussionen, sowie die Unternehmungen mit ihr in Freizeit und Urlaub. Meine 90-jährige Mutter ist erfreulicherweise geistig sowie altersentsprechend körperlich fit und versorgt sich selbst.

Im Anschluss an das Medizinstudium absolvierte ich die Ausbildung zum Facharzt für Pathologie. Da mein Interesse schon immer der Onkologie und Hämatologie galt, folgte die Ausbildung zum Facharzt für Innere Medizin sowie zum Additivfacharzt für Hämatologie und internistische Onkologie.

Seit 2008 arbeite ich für die Tiroler Hospiz-Gemeinschaft, zuerst als Arzt auf der Palliativstation. Seit 2010 liegt mein überwiegender Arbeitsbereich im Mobilen Palliativteam, in dem ich die Funktion des ärztlichen Leiters habe. Wir versorgen zwei große Bezirke in Tirol mit über 300 000 Einwohner*innen, was nur durch die enge Zusammenarbeit mit den lokalen Hausärzt*innen und Pflegeteams möglich ist. Die Mitglieder unseres Mobilen Palliativteams versuche ich umfassend zu unterstützen, damit sie ihre komplexe Arbeit in einem Gefühl der Sicherheit durchführen können.

Mein zentrales persönliches Interesse liegt im Verständnis der Hintergründe und Folgen von existenziellem Leiden und darin, wie wir unsere Betreuten sowie unsere Teammitglieder in diesen belastenden Situationen bestmöglich unterstützen können. Weiters begleite ich ethische Entscheidungsprozesse und Therapiezielformulierungen in fortgeschrittenen Erkrankungsphasen und am Lebensende. Besonders zu diesen Themengebieten bin ich in der Bildungsarbeit tätig. Kontaktadresse: christoph.gabl@hospiz-tirol.at

Wie kamen Sie in Ihr jetziges Tätigkeitsfeld?

Die letzten Monate, Wochen und Tage im Leben eines Menschen sind eine kostbare, wertvolle Zeit. Daher sollen unsere Patient*innen und deren Angehörige diese Zeit mit der bestmöglichen Lebensqualität erleben können.In der Arbeit auf der Onkologie erlebte ich Defizite in meiner Kommunikation mit den Patient*innen und besonders in meinem Verständnis, was ein Leben mit einer lebensbedrohlichen/todbringenden Erkrankung im Alltag wirklich bedeutet. Das Ausmaß der Auswirkungen der Erkrankungen und der verschiedenen onkologischen Therapie auf das alltägliche Leben der Patient*innen und deren Angehörigen blieben mir oft verborgen. Daher begann ich während der Facharztausbildung zum Internisten mit dem 4-jährigen Master-Lehrgang für Palliative Care.

Was wäre für Sie die berufliche Alternative?

Ich erlebe meine berufliche Tätigkeit als sehr erfüllend und möchte keine andere ausüben. Da ich den intensiven Kontakt mit Menschen nicht missen möchte, kommt, im Gegensatz zu früher, ein Studium von Physik oder Chemie nicht mehr in Frage.Aufbauend auf meine aktuellen Erfordernisse im Beruf bedeutet ein Philosophiestudium mit einem Schwerpunkt auf Ethik eine sinnvolle und spannende Ergänzung, um Ethikberatung fundierter anbieten zu können.

Wie beginnen Sie Ihren Tag?

Die Tür, die sich am Morgen in den Tag öffnet und am Abend diesen beschließt, diese Tür hat in meinem inneren Bild zwei Angeln. Diese stehen für den morgendlichen und abendlichen intensiveren Kontakt mit dem Geist (Spirit), der mich im Leben trägt, meiner Spiritualität.Nach dem Aufstehen versuche ich ausreichend Zeit und Muße zur Meditation mittels verschiedener Techniken zu haben. Daran schließt sich eine Phase im Zeitdruck an, beginnend mit der Zubereitung des Frühstücks und bis zum gemeinsamen Verlassen unserer Wohnung. Erfreulicherweise habe ich die Möglichkeit, die 10 km zu meiner Arbeitsstelle, dem Hospizhaus Tirol, mit dem Fahrrad auf Radwegen abseits des Autoverkehrs, in den Auen entlang zweier Flüsse, zurückzulegen. Dieser Weg ermöglicht mir eine knappe halbe Stunde, in der ich Zeit finde, über verschiedenste Dinge nachzudenken oder einfach die Natur im Tagesanbruch auf mich wirken zu lassen.

Leben bedeutet für mich …

Leben ist für mich ein Geschenk, das größte Geschenk, das ich erhalten habe und das ich nützen darf und soll. Ich erlebe in diesem Geschenk das Leben wie in einer Partnerschaft, wobei meine Person von meinem Leben berührt wird und mit ihm unendlich eng verbunden ist, ihm aber nichts vorschreiben kann; Hartmut Rosa spricht sehr treffend von der Unverfügbarkeit des Lebens.Diese fruchtbringende, sinnspendende, aber auch spannungsgeladene sowie eng verwobene Dualität meines Lebens mit meiner Person beschreibt Viktor Frankl wunderbar in folgendem Satz: „Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen stellt. Er hat nicht zu fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten – das Leben zu verantworten hat.“ Um die Angebote und (Heraus-)Forderungen des Lebens wahrnehmen und auf sie zumeist adäquat reagieren zu können, versuche ich mich darin zu üben, ganz bei mir zu bleiben. Nur dann kann ich entsprechend antworten und Verantwortung übernehmen, ohne mich von den vielfältigen Aufgaben getrieben zu fühlen.Gefühle wie Dankbarkeit oder Demut dem Leben gegenüber entstehen in mir durch sinnstiftende Momente, wie ergreifende, schöne Erlebnisse oder in der Begegnung mit der Liebe und Zuneigung zu und von anderen Menschen. Natürlich erlebe ich auch Phasen von Leid und Verzweiflung. Da Viktor Frankl lehrt, dass ich durch die Arbeit an meiner Haltung und Einstellung zu leidvollen Situationen auch Sinn im erlebten Leid finden kann, versuche ich meine diesbezüglichen Erlebnisse zu reflektieren, um in Zukunft vielleicht gefestigter mit derartigen Lebensphasen zurecht zu kommen.Wichtige Lehrmeister im Umgang mit leidvollen Herausforderungen des Lebens waren und sind zahlreiche Menschen, besonders meine Patient*innen, die unerhört Belastendes erfahren mussten und müssen, Belastungen, die ich nicht begreifen kann. Von diesen Menschen, für die ich voll Bewunderung bin, kann man lernen, dass es möglich ist, auch in diesen Situationen einen positiven Zugang und Lebensqualität zu finden.Dankbarkeit und Freude empfinde ich also auch dann, wenn ich in Zeiten von umfassenden Verpflichtungen oder schwerer Belastung erlebe, Fähigkeiten entwickelt zu haben, um wieder selbstwirksam zu werden und die Zukunft als Gestaltungsraum sehen zu können.Zusammenfassend bedeutet für mich Leben ein Geschenk, die Möglichkeit von wunderbaren Erlebnissen sowie Verpflichtung und Verantwortung, etwas aus dem Geschenk zu machen. Als Person werde ich vom Leben berührt und fühle mich wegen der vielen sinnstiftenden Situationen, die ich erleben darf, lebendig.Mir ist bewusst, dass ich dies leicht sagen kann, in meiner Situation von Gesundheit und finanzieller Absicherung.

Sterben bedeutet für mich …

So banal es klingt, Sterben ist ein Teil des Lebens. Daher gelten dieselben Bedingungen, wie ich zum Leben beschrieben habe. Im Gegensatz zu dem, was sich die heutige Gesellschaft wünscht und auch glauben macht, im Gegensatz zu dem ist das Sterben wie das Leben unverfügbar. Auch hier stellt das Leben die Fragen, auf die ich antworten muss. Wenn ich an diese Phase meines Lebens denke, spüre ich das Gefühl umfassender Hoffnung in mir.Die Hoffnung, dass ich liebevoll (und dankbar) darauf blicken kann, welche Geschichte ich mit meinem Leben und mein Leben mit mir geschrieben hat.Die Hoffnung, dass ich meine Möglichkeiten im Leben ausgeschöpft und nichts Wichtiges oder Richtiges unterlassen habe. Darin liegt auch die Hoffnung, dass ich in der Lage sein werde, wichtige Dinge abzuschließen oder auf einen Weg zu bringen, der Weiterentwicklung ermöglicht.Die Hoffnung (und dies ist mein größter Wunsch), dass ich meiner Tochter Judith so viel Wärme und Kraft mitgegeben habe, damit sie ihr Leben gestalten und auf die Fragen ihres Lebens zu ihrer Zufriedenheit antworten kann.Natürlich ist die Zeit von Sterben und Tod eine Phase von Abschied und Trauer, die ich in Begleitung liebevoller Menschen und unter guter Palliativbetreuung erleben möchte.Meine Spiritualität ist von christlichem und buddhistischem Denken geprägt, aber ich glaube nicht, dass wir Menschen in der Lage sind, die großen Zusammenhänge zu erfassen und zu verstehen. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass unser Dasein von umfassendem Sinn erfüllt ist.

Welches Ziel möchten Sie unbedingt noch erreichen?

Die Entwicklung der Persönlichkeit und den Lebensweg meiner Tochter Judith genießen (wie Jesper Juul sagt) und ihr möglichst lange zur Seite stehen, ohne sie zu sehr zu beeinflussen oder zu lenken.Ausreichend Zeit und Ressourcen für meine Selbsterkenntnis und meine Spiritualität zu haben, und besonders, um meine Meditationspraxis zu vertiefen.Fachlich und beruflich beschäftigen mich hauptsächlich zwei Projekte: die Weiterentwicklung von Forschung und Lehre bezüglich der existenziellen Not, sowie der Ausbau einer frühzeitigen Palliativbetreuung bei lebenslimitierenden Erkrankungen im Sinne der „Early Palliative Care“.

Meine bisher wichtigste Lernerfahrung im Leben ist …

Die wichtigsten Lehrmeister sind die Menschen, denen ich begegne und von denen ich täglich lerne; hier denke ich an meine Tochter und meine Mutter, an Diskussionen mit Freund*innen, an die Kolleg*innen in unserem Team und besonders an die Patient*innen und deren Angehörige.Die umfassende Beschäftigung mit dem Thema „Leiden und existenzielle Verzweiflung“ im Rahmen meiner Masterarbeit erlaubte mir tiefe Einblicke in unser Verständnis von Existenz und Sinnfindung im Leben sowie in die Hintergründe der Entstehung von Leiden.Dankbar erlebe ich auch die Entwicklung meines Verständnisses für mich und meiner Fähigkeit zur Selbstreflexion während der letzten Jahre.

Was würden Sie gern noch lernen?

Einen Jugendtraum erfüllen und den Tauchsport erlernen, zusammen mit meiner Tochter, um mit ihr die Fauna tropischer Meere zu erleben; nach Jahrzehnten wieder mit dem Paddeln in leichterem Wildwasser beginnen, um durch die Ruhe und Abgeschiedenheit heimischer Schluchten Distanz zum Alltag zu gewinnen.Ein Plan für die Zukunft, eventuell für die Pension: Besuch eines Lehrgangs zum Master in Medical Ethics, vielleicht im Ausland.

Woraus schöpfen Sie Kraft für Ihre Arbeit?

Von zentraler Bedeutung ist hier die hohe menschliche und fachliche Kompetenz aller Mitglieder des Mobilen Palliativteams und der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft. Diese Kompetenz bedeutet, dass ich mich auf alle Teammitglieder voll und ganz verlassen kann. Dies bedeutet auch, dass ich in Freizeit und Urlaub Distanz zur Arbeit finde und nicht darüber nachdenken muss.Unsere hochstehende Teamkultur mit gegenseitiger, von Herzen kommender Wertschätzung stärkt und spendet Energie.Das alltägliche Erleben der häufig sehr tiefen Begegnungen mit unseren Patient*innen und deren Angehörigen bedeutet eine sehr hilfreiche, fast unerschöpfliche Quelle der Energie für unsere Arbeit. Ich empfinde es als Privileg, die Erkrankten und deren Angehörige durch unser Mobiles Palliativteam und die Tiroler Hospiz-Gemeinschaft gemeinsam so unterstützen zu dürfen, damit sie diese Zeit trotz aller Belastungen in bestmöglicher Lebensqualität zu Hause verbringen und häufig als gewinnbringend erleben können. Erfolgreich geführte komplexe Gespräche oder die Behandlung von belastenden Symptomen geben dem betreuenden Familiensystem Sicherheit und schenken den Teammitgliedern Kraft.Energiequellen in der Freizeit ergeben sich durch die Begegnungen mit meiner Tochter und mit meiner Mutter, kulturelle (Lesen, Theater, Konzerte, Kino) und sportliche (Mountainbiken, Schitouren, Rodeln) Aktivitäten sowie Treffen, gemeinsame Essen, Weinverkostungen oder Tarock spielen mit Freund*innen.

Mit wem aus der Welt- oder Medizingeschichte würden Sie gern einmal einen Abend verbringen?

Mit den Logotherapeuten und Existenzanalytikern Viktor E. Frankl und Alfried Längle würde ich gerne jeweils einen Abend verbringen, um von ihnen über ihr Verständnis bezüglich der Sinn- und Leiderfahrungen im Leben lernen zu können.Bruder David Steindl-Rast verbindet die Welt meiner christlichen Wurzeln mit dem Wissen des Buddhismus und macht durch seine klaren Gedanken vieles verständlich.Und, um nach den Sternen zu greifen, ein Treffen mit den hervorragendsten spirituellen Oberhäuptern unserer Zeit, deren empathische Haltung legendär ist: mit Papst Franziskus und/oder mit dem Dalai Lama.

Wenn ich einen Tag unsichtbar wäre, würde ich …

… den Luxus genießen, ungestört zu bleiben und Zeit für mich selbst, meine Gedanken und meine Meditationspraxis zu haben.

Wie können Sie Frau Ingrid Marth beschreiben?

Ingrid Marth gehört zum Palliative-Care-„Urgestein“ Österreichs. Ich habe sie vor vielen Jahren als eine offene, sehr reflektierte Frau mit großem Tiefgang sowie als hochkompetente Pflegeperson in Palliative Care kennen und schätzen gelernt. Seit einigen Jahren arbeitet sie als Pflegeleitung im ambulanten Palliativteam der Caritas Socialis in Wien, das einen exzellenten Ruf hat.Ihre intensiv gepflegte Spiritualität mit den tiefen buddhistischen Wurzeln erlebe ich als besonders eindrucksvoll. Darauf ist wohl zurückzuführen, dass Ingrid trotz all ihrer Leiderfahrungen eine tiefe Ruhe ausstrahlt.Leider treffen wir uns persönlich selten; auf verschiedenen Palliative-Care-Veranstaltungen bedeutet es für mich immer eine ausgesprochene Freude, mich mit Ingrid Marth fachlich auszutauschen oder einfach mit ihr zu tratschen. In letzter Zeit höre ich gespannt ihren Ausführungen in Radio und Fernsehen zu. Sie erzählt in ihrer kompetenten und klaren Weise, aus großer Erfahrung schöpfend, über ihre Begegnungen mit fortgeschritten erkrankten Menschen und deren letzte Lebensphase sowie über ihre gefestigte Haltung und ihre Zugewandtheit zu diesen Menschen.

Wie beenden Sie Ihren Tag?

Im Anschluss an das Abendessen nützen wir die Zeit zum gemeinsamen Gespräch oder Spiel, zum Lesen oder zum Fernsehen. Falls die Müdigkeit nicht zu groß ist, folgt vor dem Zubettgehen eine kleine Meditationsübung, meist ein Bodyscan. Vor dem Einschlafen erinnere ich mich an die positiven Erlebnisse und Begegnungen des vergangenen Tages. Die Metapher hierzu ist die Geschichte einer Frau, die eine Handvoll Bohnen in ihrer linken Jackentasche mit sich trug und bei jedem schönen Erlebnis eine Bohne in ihre rechte Jackentasche legte; am Abend nahm sie die Bohnen aus ihrer rechten Jackentasche und erinnerte sich an die positiven Ereignisse des Tages.

Gibt es etwas, das Sie gern gefragt worden wären, aber noch nie gefragt worden sind?

Das Thema von Leiden und existenzieller Not hat weder in der Ausbildung von Pflegepersonen noch von Mediziner*innen einen Stellenwert, im Gegensatz zur Behandlung von körperlichen Symptomen. In einer österreichweiten Studie beschreiben Fachkräfte in Palliativeinrichtungen, dass im Durchschnitt bei 30 % aller Patient*innen ausgeprägtes existenzielles Leiden beobachtet wird. Wenn 30 % aller Palliativpatient*innen an schlecht behandelten Schmerzen litten, würden umfassende Schulungen erfolgen. Daher würde ich gerne gefragt werden, an Forschung und an der Erstellung von Ausbildungscurricula zum Themenbereich des existenziellen Leidens mitzuwirken.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
22. Dezember 2020

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