Z Sex Forsch 2021; 34(01): 55-56
DOI: 10.1055/a-1367-8472
Buchbesprechungen

Die Liebe der Gesellschaft. Soziologie der Liebe als Beobachtung von Unwägbarkeit

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Udo Thiedeke. Die Liebe der Gesellschaft. Soziologie der Liebe als Beobachtung von Unwägbarkeit. Baden-Baden: Nomos 2020. 186 Seiten, EUR 39,00

Hunderttausende von Verliebten tun es: Sie befestigen gravierte Vorhängeschlösser an Brücken und werfen die Schlüssel fort, um die Ewigkeit ihrer Liebe zu besiegeln. Man kann das für Kitsch halten, für eine Verschandelung des öffentlichen Raums und auch hinterfragen, ob die an Käfig und Knast erinnernde Schloss-Metapher tatsächlich ein gelungenes Sinnbild der romantischen Liebe ist. An prominenten Brücken summieren sich die kleinen Liebesschlösser zu tonnenschweren Lasten, unter denen es schon zu Einstürzen kam. Das Anbringen von Liebesschlössern ist deshalb mancherorts, etwa in Berlin und Venedig, inzwischen streng verboten. Andernorts sind Liebesschlösser willkommen, denn sie erweisen sich als Tourismus-Magnet. Liebende reisen an, um die Schlösser zu bewundern, ihr eigenes Schloss zu platzieren, und sie kehren zurück – manchmal mehrfach –, um zu schauen, ob ihr Schloss denn immer noch da ist.

Der Soziologe Udo Thiedeke (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) hat das Liebesschloss als Covermotiv für seine Monografie „Die Liebe der Gesellschaft“ gewählt. Und tatsächlich zeigt der Liebesschloss-Brauch direkt auf, dass die romantische Liebe eben nicht nur eine private Gefühlsangelegenheit zwischen zweien ist, sondern dass sie öffentliche und gesellschaftliche Dimensionen hat, somit auch der Gesellschaft gehört. Unter Verliebten ist der Wunsch, die gemeinsame Verbindung ausgerechnet mit einem Vorhängeschloss zu feiern, durchaus nicht weltfremd. Denn Visionen von Exklusivität und Unendlichkeit gehören zum kulturellen Code der romantischen Liebe dazu, wie das Buch verdeutlicht.

Auf der Basis von Vorarbeiten des Systemtheoretikers Niklas Luhmann versteht Udo Thiedeke die romantische Liebe aus soziologischer Sicht als „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“ (S. 16). Damit ist gemeint, dass für die Liebe ein sozial geteiltes Regelwerk existiert, dementsprechend die Liebenden ihren Gefühlsausdruck und ihr Liebeshandeln organisieren und kommunikativ vermitteln. Bei der romantischen Liebe geht es dabei im Kern darum, einen anderen Menschen „zum Zentrum des eigenen Erlebens und Handelns zu machen“ (S. 37). Eigentlich eine Zumutung. Aber sie geht einher mit dem Versprechen, dafür im Gegenzug zum Zentrum des Erlebens und Handelns des anderen Menschen zu werden. In modernen, funktional differenzierten Gesellschaften wird es zunehmend unwahrscheinlich, dass Paare sich zusammenfinden, sind doch die Einzelnen im Zuge der Individualisierung immer unterschiedlicher, eigenwilliger und damit weniger passfähig geworden. Die romantische Liebe indessen kann das geschickt wenden: „Ich liebe dich – nicht nur trotz, sondern gerade wegen deiner Eigenheiten und Eigenwilligkeiten und stelle mich darauf ein“, ist das romantische Programm. Damit wird es möglich, dass Fremde eine Liebes-Intimität aufbauen. Da die Liebe aber keine reine Privatveranstaltung ist, sondern sich anhand gesellschaftlicher Erwartungen strukturiert, werden die Liebenden nicht nur miteinander, sondern auch mit der Gesellschaft verbunden bzw. „strukturell gekoppelt“ oder „interpenetriert“, wie es in der Sprache der Systemtheorie heißt.

Gegliedert ist der Band in zehn kompakte Kapitel, die das Thema durchdeklinieren. Es beginnt mit Kapitel 1 „Die Freundschaft lieben“ – hier wird die romantische Liebe von der Freundschaft abgegrenzt. In weiteren Kapiteln geht es darum, die Gesellschaft, das Medium, die Unvernunft, das Ideal, das Kapital, den Sex, das Leiden und die Zukunft zu lieben. Das Werk kulminiert im Abschlusskapitel 10 mit dem emphatischen Titel „Die Liebe lieben!“.

Der Autor gehört nicht zum Chor derjenigen, die den Abgesang auf die romantische Liebe anstimmen und sie z. B. mit ihrem Exklusivitätsanspruch für bürgerlich-antiquiert oder angesichts des ubiquitären Online-Datings für kapitalistisch entfremdet halten. Stattdessen wird aufgezeigt, dass die romantische Liebe als Kommunikationscode durchaus noch leistungsfähig darin ist, Individuen in Paarbeziehungen und somit in die Gesellschaft zu integrieren. Dabei spielen Körper und Sexualität eine wichtige Rolle. Denn um dem Liebesideal gerecht zu werden, muss man sich schon „ganz“ wollen – mit Haut und Haar. Gleichzeitig können Dating-Apps und Partnerbörsen, denen so oft Warenhaus-Charakter und algorithmische Kälte vorgeworfen werden, keineswegs die Paarbildung kontrollieren, denn die ist immer noch an „Amors Pfeil“ gebunden (S. 87). Wenn es nicht „funkt“, dann nutzen auch die „Matches“ auf der App nichts.

Das Buch leistet, ausgehend von Luhmanns systemtheoretischer Perspektive, einen soziologischen Beitrag zum Verständnis der Liebeskommunikation. Es geht über Luhmanns Ansatz jedoch hinaus, indem es nach den medialen Bedingungen und vor dem Hintergrund von Internet und Social Media auch nach den Veränderungen dessen fragt, was Liebe für den gesellschaftlichen Einbezug des Individuellen leisten kann. Vielfältige Quellen werden verarbeitet, darunter auch aktuelle empirische Studien. Zentraler Bezugspunkt sind dabei gesellschaftlich geteilte romantische Normalitätserwartungen, wie sie die cis-heterosexuelle, monogame Liebesbeziehung besonders vorbildlich erfüllt. Nicht-heterosexuelle und nicht-monogame Lebensweisen kritisieren die Normalitätserwartungen des klassischen Liebesideals – und folgen ihm dennoch öfter als vielleicht erwartet.

Aufgelockert wird die Analyse durch Liebes-Poesie, seien es Songtexte, klassische Lyrik oder Werke von Hobby-Dichter:innen aus dem Internet, welche die Regeln des romantischen Codes mehr oder minder naiv besingen. Am Ende wirft der Autor die Frage auf, ob nicht in Zukunft die Sozialen Medien bestimmte Funktionen der romantischen Liebe übernehmen könnten, da auch dort die Individuen ihre Eigensinnigkeit ausdrücken und dafür Anerkennung erhalten können. Doch selbst wenn für manche Menschen die persönliche Online-Fan-Community ein viabler Ersatz für die dyadische Liebes-Intimität sein mag, so wird es doch vermutlich genügend Menschen geben, die heute noch lieber lieben als „liken“, so legt es die Abhandlung nahe. Denn die romantische Liebe ermöglicht und verlangt eine Partnerwahl allein auf der Basis von Gefühlen der Begeisterung und des Begehrens, eine ungemeine Verlockung – gerade im Zeitalter der Selbstdarstellung.

Nicola Döring (Ilmenau)



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Article published online:
16 March 2021

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