Ernährung & Medizin 2021; 36(02): 49
DOI: 10.1055/a-1386-8616
Editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser, …

Rima Obeid

Präzisionsernährung: Chancen und Fallstricke

Es gibt sicherlich ein starkes öffentliches Interesse und auch große Marktchancen auf dem Gebiet der personalisierten Ernährung. Die Aufnahme der genbasierten Ernährung in die Lehrpläne von Diätetik- und anderen Ausbildungsprogrammen für Gesundheitsfachkräfte hat begonnen (z. B. in Kanada). Doch sind wir alle bereit für diesen revolutionären Weg der Präzisionsernährung?

Im April dieses Jahres erschien ein Übersichtsartikel über Precision Nutrition als leistungsfähiges Werkzeug für die Erstellung von Ernährungsempfehlungen und Verhaltensänderungen zur Verbesserung der Gesundheit [1]. Meist beruhen DNA-basierte Empfehlungen auf Beobachtungsstudien. Nun sollen über eine Million Menschen rekrutiert werden, mit dem Ziel, eine umfangreiche Datenbank mit Gesundheitsinformationen aufzubauen. Sie soll die breite Implementierung der Präzisionsmedizin im US-Gesundheitssystem untermauern.

Genetische Testkits liefern Informationen über alles Mögliche: vom Alterungsprozess über das Krankheitsrisiko bis hin zu sportlichen Fähigkeiten. Ein Testverfahren mit beträchtlichem gesundheitlichem Potenzial ist die DNA-basierte personalisierte Ernährung. Die Nutrigenomics wollen verstehen, warum manche Menschen anders als andere auf die gleichen Lebensmittel, Getränke und Nahrungsergänzungsmittel reagieren. Die Erkenntnisse daraus fließen nun in personalisierte Ernährungsstrategien zur Krankheitsprävention und Gesundheitsoptimierung.

Basis dieser Tests ist die Identifizierung, welche genetischen Varianten Einfluss auf die Ernährung, die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit haben. Jedoch müssen erst randomisiert-kontrollierte Studien zeigen, dass die aus der DNA gewonnene Information aussagekräftiger ist als die konventionelle Ernährungsberatung, die keine genetischen Informationen einbezieht.

Die DNA-basierte personalisierte Ernährung hat viele kontrovers diskutierte Aspekte. So ist nicht klar, ob die genetischen Varianten selbst zur individuellen Reaktion auf Nahrungsmittel beitragen oder andere Stoffwechselmarker im Blut (z. B. Glukose, HbA1c). Mit anderen Worten: Ist das Gen die Ursache für evtl. Ernährungsgewohnheiten, die zu Fettleibigkeit führen? Umstritten ist auch, ob schon einzelne genetische Varianten ausreichend sind oder ob eher ein genetischer Risiko-Score vorhanden sein muss. Führt eine DNA-basierte personalisierte Ernährung in größerem Maße zu einer langfristigen Verhaltensänderung als eine allgemeine Beratung? Wie können personalisierte Ratschläge auf Bevölkerungsebene ansetzen, wenn andere Empfehlungen bereits etabliert sind (z. B. geringer Zucker- und Salzkonsum, reduzierter Fleischkonsum)? Wenn personalisierte Ernährung nachweislich die Gesundheit verbessert, wer soll dann für den Test bezahlen? Werden Lebensmittelindustrie und Restaurants genbasierte Menüs anbieten? Welche Rolle werden sozioökonomische Faktoren bei der Umsetzung spielen?

Während Bayer und Holzapfel in ihrem Beitrag noch viele Unsicherheiten ansprechen, lernen wir aus dem Beitrag von Schiller und Buxel, dass sich ca. 20 % der Befragten für einen Gentest entscheiden würden, gleichzeitig aber auch fast die Hälfte diesen ablehnt. Sollte in 5 Jahren die Evidenzlage auf dem Gebiet der Präzisionsernährung besser sein als heute, müssten aber auch folgende Punkte geregelt werden: die Notwendigkeit einer medizinischen Verordnung, die Finanzierung, der Beweis für einen langfristigen Erfolg und die Frage, wer sich testen lassen darf.

Ihre
Prof. Dr. Rima Obeid



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Article published online:
08 June 2021

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