Deutsche Zeitschrift für Onkologie 2021; 53(02): 92-93
DOI: 10.1055/a-1393-9073
Forum – Buchtipps
Rainer Jund

Tage in Weiß

Rainer Jund
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Jund R. Tage in Weiß.München: Piper Verlag; 2019: 236 Seiten. € 20,00. ISBN 978-3-492- 05878-0

Wer als Arzt in einer Klinik gearbeitet hat, kennt sie - die tausend Arten an Müdigkeit. Das Gefühl, der Arztkittel hängt an den Schultern wie ein nasser Sack, der Fußboden schlägt Wellen, das Gehirn Pudding, die Knochen gefüllt mit Blei. Rainer Jund kennt diese Müdigkeit, und er kann sie beschreiben. In seiner Kurzgeschichtensammlung aus seiner Zeit als Assistentsarzt in einer HNO-Klinik kommt er den Menschen in Kliniken nah. Er berichtet in klarer und präziser Sprache von den Schicksalen, die ihm bei seiner Arbeit begegnet sind. Seine Geschichten erzählen von Menschen, die in der Begegnung mit dem Medizinbetrieb zu Patienten, Krankengeschichten und Fachbegriffen werden und für ihn doch Menschen bleiben, die Angehörige haben, Gefühle, Hoffnungen und Träume.

Junds Schilderungen sind treffend, und nicht nur Ärzte werden sich in den schwierigen Situationen wiedererkennen, von denen er berichtet: Akute Notfälle, in der Hektik des vollen Wartezimmers fast übersehen, skurrile Persönlichkeiten, denen die Ambulanz oft zum einzigen Ort wird, um über ihre kruden Vorstellungen zu reden oder Menschen, die überlastete Klinikärzte als Dienstleister für Kleinigkeiten missbrauchen, für die auch ein Termin in einer Praxis ausgereicht hätte.

Dabei bleibt es auch nicht außen vor, wenn es schwierig wird oder Fehler passieren. Mit der Vorstellung eines unfehlbaren Arztes räumt dieses Buch gründlich auf; er wählt die Worte scharf, hart und drastisch, um hierarchische Strukturen, menschliche Unzulänglichkeit oder Bosheit und das oft chronische Versagen des Kliniksystems im würdevollen Umgang mit den Grenzen des Lebens, Trauer und Tod, darzustellen.

Allerdings ist zu bedenken, ob diese Reise durch den Klinikalltag zart besaiteten Menschen zumutbar ist. Dazu kommt: HNO-Heilkunde gilt unter Medizinern als ein eher düsteres Fach, Tumorwunden und Blutströme durchziehen die Geschichten wie dicke rote Fäden. Wer davor nicht zurückschreckt, findet eine sehr lesenswerte Sammlung, die auch viele Erinnerungen an eigene Erlebnisse in der Klinikzeit wieder ins Gedächtnis ruft. Und die in den Berichten über die kleinen, geglückten Momente zwischen Arzt und Patient das Gefühl wiederbeleben kann, warum man den Arztberuf gewählt hat, gerade diesen – trotz oft überwältigender Bürokratie, Hierarchie, Zeitdruck und Müdigkeit.

Fazit

Junds Texte lassen den Leser mit allen Sinnen an der Welt hinter den Türen von Sprechzimmern, Operationssälen, Umkleiden oder Stationszimmer teilhaben und so intensiv eintauchen in Gerüche, Bilder oder Geräusche, dass man den Eindruck bekommt, dem „Jungarzt“ über die Schulter schauen zu können.

Dr. med. Silke Schieber, Leonberg



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Article published online:
24 June 2021

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