Nervenheilkunde 2021; 40(06): 436-446
DOI: 10.1055/a-1401-3586
Schwerpunkt

Shared Decision Making im allgemeinpsychiatrischen Akutsetting

Eine cluster-randomisierte Studie in der Behandlung der Schizophrenie (SDMPLUS)Shared Decision Making in an acute psychiatric settingA cluster-randomized study in the treatment of schizophrenia (SDMPLUS)
Stephan Heres
1   kbo-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der kbo-Tagesklinik und Institutsambulanz Nord Schwabing, München
,
Fabian Holzhüter
2   Technische Universität München
,
Johannes Hamann
2   Technische Universität München
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ZUSAMMENFASSUNG

Ziel: Patienten, die an einer schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankung leiden, werden von den behandelnden Psychiatern oft nicht im Rahmen einer partizipativen Entscheidungsfindung (shared decision making, SDM) mit in die Entscheidungsprozesse einbezogen. Da SDM auch die Behandlungsergebnisse in der Therapie psychiatrischer Erkrankungen verbessern könnte, untersucht die dargestellte Studie (SDMPLUS) die Anwendung von SDM im Bereich akut erkrankter Patienten.

Methodik: In dieser multizentrischen, cluster-randomisierten Studie wurde der Einsatz von SDMPLUS gegenüber der Standardbehandlung auf 12 akutpsychiatrischen Stationen in 5 Kliniken untersucht. Alle Patienten, die an einer schizoaffektiven Störung oder einer Schizophrenie litten und die Einschlusskriterien der Studie erfüllten, wurden bei Aufnahme auf die Stationen konsekutiv in die Studie eingeschlossen. Auf den Interventionsstationen erhielten sie ein Gruppentraining in den Kommunikationstechniken des SDMPLUS. Die Behandlungsteams dieser Stationen durchliefen 2 halbtägige Workshops zum Erwerb der Techniken. Auf den Kontrollstationen wurden weder Patienten noch Behandlungsteams trainiert, die Behandlung verlief unverändert („treatment as usual“, TAU). Der primäre Zielparameter der Studie war das Ausmaß der subjektiv empfundenen Einbeziehung in die Entscheidungsfindungsprozesse der Patienten nach 3 Wochen. Retrospektiv wurden in einer Post-hoc-Analyse Daten zu Aggressionshandlungen und freiheitsentziehenden Maßnahmen nacherhoben und ausgewertet.

Ergebnis: Insgesamt wurden je 161 Patienten auf den Interventions- und Kontrollstationen in die Studie aufgenommen. Die Intervention SDMPLUS führte zu einem höheren Maß an empfundener Einbeziehung in die Entscheidungsprozesse, dargestellt durch einen mittleren Unterschied von 16,5 Punkten in der SMD-Q-9-Skala. Darüber hinaus waren die therapeutische Allianz, die Zufriedenheit mit der Behandlung und die selbstberichtete Adhärenz der Interventionspatienten höher als in der Kontrollgruppe. Allerdings fanden sich in der Nachbeobachtungsphase über die Dauer eines Jahres hinweg keine Hinweise auf eine Erhöhung der Adhärenz oder eine Reduktion der Rehospitalisierungsraten. Auch zeigte die Intervention keine direkte Auswirkung auf das Auftreten von Aggressionshandlungen oder die Anwendung von freiheitsentziehenden Maßnahmen oder Zwangsbehandlungen. Patienten mit einer dokumentierten Aggressionshandlungen oder der Aufnahme in die stationäre Behandlung entgegen ihrem Willen konnten jedoch in gleichem Ausmaß von der Intervention hinsichtlich der erlebten Einbeziehung in Entscheidungsprozesse profitieren wie die restlichen Teilnehmer der Studie.

Zusammenfassung: Die Studie konnte zeigen, dass die Kommunikationstechniken des SDMPLUS (z. B. auch das Einbeziehen von Elementen der motivierenden Gesprächsführung) eine Möglichkeit darstellen, die partizipative Entscheidungsfindung auch im akutpsychiatrischen Behandlungskontext im Interesse der Patienten einzusetzen. Die Schnittstellenproblematik zwischen der stationären und der post-stationären Behandlung muss hierbei aber künftig noch stärker in den Fokus genommen werden, um die Effekte nachhaltig zu festigen.

ABSTRACT

Aims Although shared decision-making (SDM) has the potential to improve health outcomes, psychiatrists often exclude patients with more severe mental illnesses or more acute conditions from participation in treatment decisions. This study examines whether SDM is facilitated by an approach which is specifically adapted to the needs of acutely ill patients (SDM PLUS).

Methods The study is a multi-center, cluster-randomized, non-blinded, controlled trial of SDM-PLUS in 12 acute psychiatric wards of 5 psychiatric hospitals addressing inpatients suffering from schizophrenia or schizoaffective disorder. All patients fulfilling the inclusion criteria were consecutively recruited for the trial at the time of their admission to the ward. Treatment teams of intervention wards were trained in the SDM-PLUS-approach through participation in two half-day workshops. Patients on intervention wards received group training in SDM. Staff (and patients) of the control wards acted under “treatment as usual” conditions. The primary outcome parameter was the patients’ perceived involvement in decision making at 3 weeks after study enrolment, analyzed using a random effects linear regression model. Retrospectively obtained data on incidents of patient aggression and coercive measures were additionally analyzed post-hoc.

Results 161 participants each were recruited in the intervention and control group. SDM-PLUS led to higher perceived involvement in decision making measured by the SDM-Q-9 questionnaire. In addition, intervention group patients exhibited better therapeutic alliance, treatment satisfaction and self-rated medication compliance during inpatient stay. There were, however, no significant improvements in adherence and rehospitalization rates in the 12-month follow-up. The intervention showed no effect on patient aggression and coercive measures. Still patients admitted involuntarily or featuring incidents of aggression profited similarly from the intervention with regard to perceived involvement, adherence, and treatment satisfaction as patients admitted voluntarily or featuring no incidents of aggression.

Conclusions Despite limitations in patient recruitment the SDM-Plus trial has shown that the adoption of behavioral approaches (e. g., motivational interviewing) for SDM may yield a successful application to mental health. The authors recommend strategies to ensure effects are not lost at the interface between in- and outpatient treatment.



Publication History

Article published online:
02 June 2021

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