retten! 2021; 10(04): 246-253
DOI: 10.1055/a-1467-2605
Fit als Notfallsanitäter

Stabile Schmalkomplextachykardie – Das sollten Sie als Notfallsanitäter wissen

Jens Tiesmeier
,
Rico Kuhnke

retten! hält Sie fachlich fit: In jeder Ausgabe erarbeiten wir anhand eines Fallbeispiels einen interessanten Einsatz algorithmenkonform auf. Anhand von exemplarischen Fragen zu erweiterten Notfallmaßnahmen, Kommunikation und Rahmenbedingungen können Sie sich auf die Ergänzungsprüfung vorbereiten oder Ihr Wissen auffrischen.

Kommentar

Jens Tiesmeier, Ärztlicher Leiter des Notarztstandorts Lübbecke, Oberarzt am Institut für Anästhesiologie, Intensiv- und Notfallmedizin am Krankenhaus Lübbecke der MKK, Mühlenkreiskliniken

Leider bleibt der ERC im englischen Original die Antwort schuldig, warum für alle regelmäßigen Rhythmusstörungen zunächst ein Vagusmanöver, bei Nichtansprechen eine Adenosingabe und schließlich eine Unterteilung in „schmal“ oder „breit“ empfohlen wird. Dies ist ein guter Anlass, die wichtigsten Änderungen für die außerklinische Versorgung (out-of-hospital cardiac arrest; OHCA) vorzustellen [6] [7].

Epidemiologie und Prävention eines Kreislaustillstands

Erstmals widmet der ERC der Epidemiologie ein eigenes Kapitel. Auf dem Boden der Utstein-Empfehlung zur Erfassung von Reanimationsdaten wird dazu aufgerufen, flächendeckend nationale Reanimationsregister zu etablieren. Ziel ist, mehr über die Inzidenz (19–97/100 000 Einwohner OHCA-Behandlungen), das primäre Überleben (ca. 8 % [Europa] und ca. 13 % in Deutschland) und das Langzeitüberleben zu erfahren, um weitere Verbesserungen in der Überlebenskette ableiten zu können.

Die Überlebenszahlen zeigen, wie wichtig es ist, Hinweise auf eine Herzerkrankung zu erkennen, um durch eine kardiologische Behandlung einen Kreislaufstillstand möglichst zu verhindern. Folgende Symptome sollten den Rettungsdienst aufmerksam werden lassen, um Patienten beraten zu können:

  • Synkopen (besonders während körperlicher Belastung, im Sitzen oder im Liegen)

  • Brust- und Oberbauchschmerzen oder plötzliche Dyspnoe

  • Schwindel, Palpitationen oder Synkopen bei jungen Menschen können auf (noch) unbekannte angeborene Herzfehler oder genetische Herzerkrankungen (z. B. Long-QT-Syndrom oder primäre Kardiomyopathien) hinweisen

Basic-Life-Support, Defibrillation, Medikamente

Weitere wichtige Änderungen oder verstärkte Empfehlungen gegenüber der vorherigen Guideline sind:

  • Eine qualitativ hochwertige Thoraxkompression mit minimalen Unterbrechungen (weniger als 5 s zur Schockabgabe oder Atemwegssicherung, keine Unterbrechung bei mechanischen Reanimationshilfen) und eine frühe Defibrillation (nur noch mit Klebeelektroden, der Defibrillator kann schon während der Kompression geladen werden, um sofort zur Verfügung zu stehen [cave: Training]) haben weiterhin höchste Priorität. Eine „Hands-on-Defibrillation“ wird weiterhin nicht empfohlen. Drucktiefe (5–6 cm), Frequenz (100–120/min) und ein Kompression/Ventilation-Verhältnis von 30:2 beim BLS sind geblieben.

  • Die erste Rhythmusanalyse erfolgt, sobald der Defibrillator angeschlossen wurde. Bei Kammerflimmern (VF) oder pulsloser ventrikulärer Tachykardie (pVT) wird ein Schock mit mindestens 150 J abgegeben. Nach einem ROSC muss ein 12-Kanal-EKG ergänzend abgeleitet werden.

  • Die Art der Atemwegsicherung (Masken-Beutel-Ventilation, extraglottische Atemhilfe, Intubation, Einsatz eines Videolaryngoskops usw.) richtet sich nach der Erfahrung des Anwenders. Ziele sind die Verabreichung eines möglichst hohen Sauerstoffanteils (ideal 100 %) bis zum ROSC und der Einsatz der Kapnografie und -metrie zur Lagekontrolle und der Kontrolle des etCO2 im Verlauf des ALS und/oder bei ROSC. Bei 10 Beatmungen pro Minute müssen inadäquate Ventilationen (z. B. niedrige Tidalvolumina) vermieden werden. Nach einem ROSC wird der Sauerstoffanteil reduziert, bis eine Sättigung von 94–98 % vorliegt.

  • Als primärer Zugang soll ein i. v. Zugang gewählt werden. Falls dieser nicht gelingt (der Zeitraum wird nicht angegeben), soll ein i.o. Zugang erfolgen.

  • Adrenalin (1 mg) wird bei nicht defibrillierbaren Rhythmen (Asystolie, PEA) so schnell wie möglich und bei defibrillierbaren Rhythmen (VF, pVT) nach dem 3. erfolglosen Defibrillationsversuch empfohlen – danach alle 3–5 min im ALS wiederholen.

  • Als gleichwertige antiarrhytmische Medikamente werden je nach lokalem Protokoll und Verfügbarkeit Amiodaron und Lidocain empfohlen. Jeweils nach der 3. erfolglosen Defibrillation kommen 300 mg Amiodaron i. v./i.o. oder 100 mg Lidocain i. v./i.o. bzw. weitere 150 mg Amiodaron oder 50 mg Lidocain nach dem 5. erfolglosen Schock zur Anwendung.

  • Beim Verdacht auf eine Lungenarterienembolie als Ursache des OHCA kann weiterhin eine Lysetherapie in Betracht gezogen werden. Der ALS wird dann für 60–90 min fortgesetzt.

  • Der großzügige Einsatz intravenöser Volumentherapie (z. B. kristalloider Lösungen) soll nur erfolgen, wenn eine Hypovolämie (als Teil der potenziell reversiblen 4 Hs und HITS) vermutet wird.

  • Zur Vermeidung längerer Unterbrechungen der Thoraxkompression bleibt der Einsatz von Ultraschalluntersuchungen (z. B. für Pneumothorax, Perikardtamponade) erfahrenen Untersuchern vorbehalten.

  • Der Einsatz mechanischer Reanimationshilfen kann erfolgen, wenn keine adäquate manuelle Kompression erfolgen kann (z. B. während des Transports) oder die Sicherheit des Helfers gefährdet ist.

  • Transportziel nach einem ROSC oder unter laufendem OHCA sollte eine Klinik mit 24-Stunden-Intensivversorgung (Post-ROSC-Protokoll inkl. gezieltes Temperaturmanagement) sowie Herzkatheterlabor und CT sein (z. B. ein Krankenhaus mit Cardiac-Arrest-Zertifizierung).

Zur Vertiefung des Wissens möchte ich auf die nachfolgenden Literaturstellen hinweisen. Die neuen Guidelines und ihre profunde Weiterentwicklung machen auf jeden Fall Lust, die wissenschaftlich fundierten Empfehlungen stets zu verfolgen und in die eigene Weiterentwicklung und den Einsatz vor Ort einfließen zu lassen.



Publication History

Article published online:
15 September 2021

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  • Literatur

  • 1 Rall M, Gaba DM. Human performance and patient safety. In: Miller RD. (Hrsg.) Miller’s Anesthesia. Philadelphia: Elsevier Churchhill Livingstone; 2009: 93-150
  • 2 Soar J, Böttiger BW, Carli P. et al. Erweiterte lebensrettende Maßnahmen für Erwachsene. Notfall Rettungsmed 2021; 24: 406-446 DOI: 10.1007/s10 049-021-00 893-x.
  • 3 Leitz P, Dechering D, Kirchhoff P. et al. Supraventrikuläre Tachykardien: In der Regel gutartig. Dt Ärztebl 2015; 112: 16-19
  • 4 Sommer P, Hindricks G. Herzrhythmusstörungen. Notfallmedizin up2date 2012; 7: 243-254
  • 5 Schnelle R. EKG in der Notfallmedizin. Edewecht: Stumpf + Kossendey; 2017: 89
  • 6 Gräsner JT, Herlitz J, Tjelmeland IBM. et al. European Resuscitation Council Guidelines 2021: Epidemiology of cardiac arrest in Europe. Resuscitation 2021; 161: 61-79
  • 7 Soar J, Böttiger BW, Carli P. et al. European Resuscitation Council Guidelines 2021: Adult advanced life support. Resuscitation 2021; 161: 115-151