Geburtshilfe Frauenheilkd 2021; 81(07): 732-736
DOI: 10.1055/a-1512-7108
GebFra Magazin
Geschichte der Gynäkologie

Vergessene und verdrängte Geschichte(n): Die geburtshilfliche Klinik und Poliklinik der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau von ihrer Gründung 1811 bis 1945

Teil 1: Von Moritz Heinrich Mendel bis zum Tode Julius Wilhelm Betschlers

Authors

  • Andreas D. Ebert

  • Matthias David

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Die Gründungsjahre der Universitäts-Frauenklinik Breslau

Der vernichtenden Niederlage der preußischen Armeen gegen die Truppen Napoleon Bonapartes (1769–1821) in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 folgten dramatische gesellschaftliche Veränderungen in Preußen [1]. Berlin wurde von den Franzosen besetzt. König Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) und seine schwangere Frau Luise (1776–1810) mussten mit dem Hofstaat über Königsberg nach Memel fliehen [2]. Preußen, das nach dem Frieden von Tilsit vom 7. Juli 1807 zwischen Kaiser Napoleon und dem russischen Zaren Alexander I. (1777–1825) schwere Gebietsverluste erlitt, die Armee reduzieren und unerhörte Kontributionen zahlen musste, brauchte Reformen [2] [3]. Daran arbeiteten Staatsmänner, Gelehrte, Militärs und Mediziner, wie Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr von und zum Stein (1757–1831) und Karl August Fürst von Hardenberg (1750–1822), Gerhard Johann David von Scharnhorst (1755–1813), August Neidhardt von Gneisenau (1760–1831) und Hermann von Boyen (1771–1848), Wilhelm von Humboldt (1767–1835) und Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) [3]. Im Rahmen der umfassenden Staatsreformen kam es auch zu Universitätsneugründungen, so z. B. am 15. Oktober 1810 in Berlin sowie am 3. August 1811 in Breslau, wo die 1506 eröffnete Brandenburgische Universität Frankfurt, die „Viadrina“, mit der 1702 gegründeten Jesuiten-Akademie, der sogenannten „Leopoldina“, deren Wurzeln bis weit ins 16. Jahrhundert reichten, fusioniert wurden [4]. Die daraus hervorgehende neue Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität entwickelte sich zu einer der bedeutendsten Hochschulen Preußens und später Deutschlands [5]. In Breslau (und 5 Jahre später in Berlin) wurde Napoleon indirekt zum Geburtshelfer der universitären Geburtshilfe in Preußen, denn mit Moritz Heinrich Mendel (1779–1813), dem Direktor des Breslauer Hebammen-Instituts und Gebärhauses, wurde der erste Ordinarius für Geburtshilfe der am 19. Oktober 1811 eröffneten Universität bestellt [6] [7] ([Tab. 1]).

Tab. 1 Die Direktoren und ihre Stellvertreter der Universitäts-Frauenklinik Breslau und ihrer Vorgängerinstitution auf einen Blick.

Name (Lebenszeit)

Dienstzeit

1791 Gründung des Breslauer Hebammen-Instituts und der Gebäranstalt (ein Haus in der Weissgerbergasse)

Johann Gottfried Morgenbesser (1741–1804), Gründer und erster Direktor des Hebammen-Instituts und der Gebäranstalt

1791–1804

Hofrath Professor Dr. Franz Zirzow (auch Zirtzow, † 1813), Direktor des Hebammen-Instituts und der Gebäranstalt

1804–1806

Dr. Elias Hentschel (1755–1839)

kommissarischer Direktor des Hebammen-Instituts und der Gebäranstalt

Dr. Johann Wendt (1777–1845)

kommissarischer Direktor des Hebammen-Instituts und der Gebäranstalt

Dr. Moritz Heinrich Mendel (1779–1813)

1807–1808 kommissarisch Direktor des Hebammen-Instituts und der Gebäranstalt

Gründung der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau 19.10.1811(im ehemaligen Katharinen-Kloster)

Moritz Heinrich Mendel (1777–1813), Direktor des Hebammen-Instituts und Gebärhauses (1. Hebammenlehrer)

ab 1809 Professor des Collegiums

von 1811 bis 1813 Ordinarius

Carl Maximilian Andrée (1781–1827), Ordinarius und 1. Hebammenlehrer

2. Hebammenlehrer: Dr. Moritz Küstner (1790–?)

1814–1827

1847 administrative und räumliche Trennung von Universität-Frauenklinik und Hebammen-Institut (im Olhauer Stadtgraben)

Julius Wilhelm Betschler (1796–1865), Ordinarius und 1. Hebammenlehrer

2. Hebammenlehrer: Privat-Dozent Dr. Johann August Burchard (1800–1866)

Albert Hayn, 2. Hebammenlehrer, dann Extraordinarius für Geburtshilfe der Albertus-Universität Königsberg, ab 1844 dort Ordinarius

1827–1865 (bis 1847 1. Hebammenlehrer)

1841–1847, dann bis 1866 Direktor des außeruniversitären Hebammen-Instituts und der Gebäranstalt

Wilhelm Alexander Freund (1833–1917)

kommissarisch 1865

Otto Spiegelberg (1830–1881)

1865–1881

Max Wiener (1850–1898)

kommissarisch 1881/82

Die Klinik befindet sich ab 1890 in der Maxstraße.

Heinrich Fritzsch (1844–1915)

1882–1893

Otto Küstner (1849–1931)

1893–1923

Ludwig Fraenkel (1870–1953)

1923–1934 nach Südamerika vertrieben

Friedrich Schultze-Rhonhof (1892–1951)

Auflösung der Schlesischen Friedrich-Wilhelms Universität, nachdem die von sowjetischen Truppen eingekesselte „Festung“ Breslau am 7. Mai 1945 kapitulierte.

Am 9. Juni 1946 erfolgte die offizielle Eröffnung einer polnischen Universität.

1934–1945

In Breslau existierte bereits vor der Universitätsgründung ein anatomisches Theater sowie seit 1791 ein Hebammen-Institut und eine Gebäranstalt, deren Leiter Dr. Johann Gottfried Morgenbesser (1741–1804) als Professor der Anatomie, Chirurgie und Hebammenkunst des örtlichen Collegium medici et sanitatis sowohl Chirurgen als auch Hebammen ausbildete [6] [7]. Außerdem war er „Ober-Stadtphysikus und Garnison-Medicus“. Morgenbesser machte sich einen Namen in der Geburtshilfe durch sein Hebammen-Lehrbuch [8]. Nach ihm wurde der königliche Hofrat Professor Friedrich Zirzow (?–1813) Hebammenlehrer [9] [10] [11]. Er hielt 4 Stunden in der Woche „die Geburtshülfe den Instituts-Hebammen nach Josephi’s Handbuch“ und ebenfalls 4 Stunden pro Woche privatim Vorlesungen für „die Candidaten der Medicin und Chirurgie über Frorieps Handbuch“ [9] [10]. Zirzow hatte an der Universität Frankfurt (Oder) promoviert [11] und unterhielt hauptberuflich einige Bäder in Schlesien [12]. Er starb 1813 bei der Betreuung von Soldaten in Lazaretten an Typhus [12]. Ab 1806 übernahmen der damals in Schlesien weithin bekannte Geburtshelfer Dr. Elias Hentschel (1755–1839) [13] [14] [15] und Dr. Johann Wendt (1777–1845), der spätere Rector magnificus der Universität (1823/1824), interimistisch die Leitung des Hebammen-Instituts [13] [14] [15]. Schließlich erhielt 1807 Moritz Heinrich Mendel, der bereits Morgenbessers Hebammen-Lehrbuch Korrektur gelesen hatte [16], vertretungsweise diese Professur am Collegium, bevor er 1808 diese offiziell übernehmen konnte [16] [17] [18]. Mendel wurde am 10. Januar 1779 in Königsberg in einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren [17]. Er erhielt Privatunterricht und studierte ab seinem 15. Lebensjahr an der Königsberger Albertus-Universität, wo er u. a. bei Johann Daniel Metzger (1739–1805), Carl Gottfried Hagen (1749–1829) und bei Immanuel Kant (1724–1804) Vorlesungen hörte. Schon während des Studiums publizierte Mendel einige Arbeiten und wurde am 17. September 1799 zum Doctor medicinae promoviert [17]. Studienreisen führten ihn dann durch Deutschland, bevor er in Kopenhagen Schüler des Geburtshelfers Matthias Saxtorph (1740–1800) wurde [17]. Im November 1801 ließ sich Mendel in Breslau als praktischer Arzt und Geburtshelfer nieder [18]. Er heirate 1803 Sophia Fischer, mit der er 2 Söhne und 1 Tochter hatte. 1804 konvertierte Moritz Heinrich Mendel zum Christentum [17] [18].



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Article published online:
13 July 2021

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