Zeitschrift für Palliativmedizin 2021; 22(06): 285-286
DOI: 10.1055/a-1540-8472
Editorial

Expertenstandards, Leitlinien, Pflegediagnosen – Wohin entwickelt sich die (Palliativ)pflege?

Liebe Leserin, lieber Leser,

die Pflege in Deutschland erlebt in der letzten Zeit eine Weiterentwicklung, wie sie seit vielen Jahren von Expert*innen gewünscht und gefordert wurde. Ergebnisse sind primärqualifizierende Studiengänge in der Pflege und eine generalistische Pflegeausbildung. Damit können in Deutschland ausgebildete Pflegefachkräfte nun in einen europäischen Vergleich gebracht werden. Im Bereich der Curricula, die durch die DGP anerkannt sind, ist dies durch eine Anpassung an die 10 Kernkompetenzen der EAPC in innovativer Weise bereits vor einigen Jahren gelungen.

Die Veränderungen, die durch primärqualifizierende Studiengänge und die generalistische Ausbildung zu erwarten sind, können zu Unsicherheiten auch in der palliativversorgenden Praxis führen. Doch diese Entwicklung beinhaltet vielfältige Chancen!

Pflegefachkräfte gelangen immer stärker in den Fokus. Dieser wurde durch die Pandemie, nochmals geschärft. Es wird dramatisch deutlich: Ohne die Pflege kann das System Gesundheitsversorgung nicht bestehen, denn die Pflege bildet ein wesentliches Fundament. Viele Pflegende – und auch Mediziner*innen – fordern seit Jahren, dass Pflegefachkräfte mehr Verantwortung übertragen bekommen. Dazu müssen entsprechende Qualifizierungen entwickelt werden, die theoretische und praktische Wissens- und Handlungserweiterungen für neue Herausforderungen und Verantwortungsbereiche schaffen. Zudem müssen alltägliche Arbeiten und Routinen kritisch hinterfragt werden, um pflegerische Maßnahmen zu optimieren oder gar neue Wege daraus zu entwickeln. Hier hat die Palliativpflege aus ihrem Selbstverständnis heraus von Beginn an eine Vorreiterfunktion übernommen, die nun weiter vertieft werden muss. Erfahrungswissen und Expert*innenmeinungen müssen wissenschaftlich untermauert, Kompetenzen und daraus resultierende Qualifizierungsanforderungen beschrieben, gelehrt und überprüft werden. Dazu brauchen wir das intensive Zusammenspiel nichtakademisch und akademisch ausgebildeter Pflegefachkräfte, um zum Wohl der von uns begleiteten Menschen die pflegerischen Kompetenzen, Verantwortungen und Zuständigkeiten noch weiter zu definieren und zu sichern. Dies stärkt das berufliche Selbstverständnis der Pflege nicht nur im Bereich spezialisierter Versorgungsstrukturen und trägt dazu bei, die Lücke in der Behandlung und Versorgung von Menschen mit palliativ-pflegerischem Hilfebedarf zu schließen.

Dazu sind Expertenstandards, Leitlinien sowie Pflegediagnosen als gängige Praxis konsequent einzuführen. Dabei sind Multiprofessionalität und das Schaffen einer eigenen beruflichen Identität und Feldkompetenz keine Gegensätze. Dies zeigt die multiprofessionell erstellte S3-Leitlinie Palliativmedizin, die keinen Widerspruch zu einem eigenen Modell der Palliativpflege, wie es die Sektion Pflege der DGP entwickelt hat, darstellt.

Darüber hinaus ist die Entwicklung von Pflegediagnosen, die im palliativen Kontext bislang wenig berücksichtigt wurden, ein weiterer wichtiger Meilenstein. Neben jeglicher Kritik, dass ein Diagnostizieren beispielsweise eine Analyse darstellt, die die Anzahl der Handlungsmöglichkeiten auf das jeweilige Phänomen reduziert, können aber vor allem die Diagnosen dabei unterstützen, die Qualität aufrechtzuerhalten. So sind sie für die Wissenschaft als Klassifikationen relevant, da sie ein Hilfsmittel im Erkenntnisprozess sein können. Aufgrund dessen können Pflegediagnosen die epidemiologische Pflegeforschung, das Erheben von Statistiken und die Transparenz von Pflegeleistungen unterstützen. Vielfach wird einer Diagnosestellung im Bereich der Pflege eine „technokratische Professionsvorstellung“ unterstellt. Eine Diagnose und auch keine Leitlinie ersetzen aber die intensive Auseinandersetzung mit den uns anvertrauten Menschen und deren Umfeld – ganz im Gegenteil: Sie bilden einen Anfangs- und weiterführende Referenzpunkte für die individuelle professionelle Begleitung von Menschen mit palliativ-pflegerischem Hilfebedarf in deren systemischen Kontexten.

Zudem sorgen sie für eine fachliche Kontinuität, da das pflegerische Wissen systematisiert sowie strukturiert wird und der detaillierte Aufbau die präzise und normierte Beschreibung von Gesundheitszuständen ermöglichen kann. Durch Pflegediagnosen können pflegerische Verantwortungsbereiche im palliativen Kontext benannt und Professionalisierungsbestrebungen gefördert werden.

Somit bilden pflegerische Diagnosen eine Grundlage für die (Weiter-)Entwicklung der Profession mit palliativem Schwerpunkt.

Mit herzlichen Grüßen,
Ihr

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Prof. Dr. Matthias Zündel, Hochschule Bremen, Pflegewissenschaft



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Article published online:
29 October 2021

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