Diabetes aktuell 2021; 19(06): 229
DOI: 10.1055/a-1627-4299
Editorial

Klimawandel

Antje Bergmann
1   Dresden
,
Peter E.H. Schwarz
2   Dresden
› Author Affiliations

Wir erleben derzeit einen aufregenden Herbst. Dieses Editorial schreibe ich einige Tage vor der Wahl, aber Sie werden es einige Tage nach der Wahl lesen. Die politische Konstellation ist sicherlich spannend und keiner hätte vor einem halben Jahr erwartet, dass es solche Veränderungen und so viele politische Diskussionen geben wird. Eine häufig getroffene Aussage war, dass die nächste Koalition eine Klima-Koalition sein soll. Ich will nun keinen Zusammenhang zwischen Diabetes und Klima ziehen, aber auch bei der Behandlung von Menschen mit Diabetes mellitus stehen wir vor gewaltigen Herausforderungen, wenn es unser Ziel ist, unsere propagierten Ziele zu erreichen.

1. Durch die Corona-Pandemie hat die Anzahl von Menschen mit neu diagnostiziertem Typ-2-Diabetes deutlich zugenommen. Nicht das Virus selbst, aber die Pandemie, soziale Isolation, Quarantäne und viele Lockdown-Regelungen wie Homeoffice haben dazu geführt, dass wir uns weniger bewegt haben, dass wir häufiger (energiereich) gegessen haben, Alkoholkonsum ist gestiegen – wir sind insgesamt sedativer geworden. Durch den Lockdown haben die Menschen im Schnitt 6 kg an Körpergewicht zugenommen. Das alleine reicht aus, um Personen mit einer gestörten Glukosetoleranz zum Diabetes konvertieren zu lassen. Regionale Untersuchungen zeigen die Zunahme bei neu diagnostiziertem Diabetes um 19–25 % im Vergleich zu 2019. Jetzt könnte man sagen: ist doch nicht so schlimm, diese zusätzlichen Patienten werden adäquat behandelt, aber:

2. Es fehlen Fachkräfte, um eine ordentliche Behandlung durchzuführen. Das stimmt und ist auch ein wachsendes Problem, insbesondere in ländlichen Regionen, aber auch durch die „Un“attraktivität des Berufes selbst. Hausärzte stöhnen zum Teil über die wachsende Anzahl von Menschen mit Diabetes. Patienten erhalten ihre Medikation (Lege artis), aber häufig keine Diabetesschulung, da die Wertigkeit im Kontext anderer Erkrankungen nicht so hoch eingeschätzt wird, aber auch weil es kein Schulungsangebot im Umfeld gibt. Und noch weiter, kommt der Patient in eine stationäre Einrichtung, trifft er häufig auf eine gute internistische Abteilung mit nur durchschnittlicher Diabetes-Expertise, weil Diabetes-Stationen und -Fachpersonal in den letzten Jahren aus Kostengründen abgerüstet wurden. Auch hier muss agiert werden – politisch und strukturell.

3. Mithilfe der Digitalisierung kann Expertise in unterversorgte Regionen oder Einrichtungen gebracht werden. Letztens las ich, dass Deutschland in puncto Digitalisierung am vorletzten Platz in Europa steht, einen Platz vor Albanien. Das hat sich vielleicht ein bisschen durch das digitale Versorgungsgesetz von Mai 2020 geändert. Die rasante Entwicklung der Zulassung von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs; die erste Diabetes-DiGA ist bereits zugelassen – weitere werden dieses und Anfang nächsten Jahres folgen) zeigen, dass es auch in Deutschland digitale Innovationen gibt. Die Schwelle für die Zulassung von DiGAs ist sehr hoch und vergleicht damit eine digitale Gesundheitsanwendung direkt mit einer medikamentösen Therapie. Im Moment erleben wir eine Goldgräberstimmung und viele hoffnungsvolle Signale, dass DiGAs bei bestimmten Patienten sehr gut wirksam sein können. Was fehlt, sind adäquate Prozesse und Patientenpfade, um die Patienten, die davon profitieren, zu erkennen und die DiGAs dann auch zu verschreiben. Ein Problem sind dabei wir selbst, dass wir als ärztliche Kollegen teilweise behäbig bis ignorant dieser Entwicklung gegenüberstehen – auch hier ist ein Umdenken nötig.

4. Was ich mir wünschen würde, ist eine wachsende Wertschätzung der Arbeit der Krankenschwester, die Diabetes-Patienten behandelt, der Diabetesberaterin, die diese Patienten schult, des Hausarztes und des Diabetologen, die diese Patienten behandeln, und der Diätassistentin und Präventionsmanagerin, die versuchen, Diabetesprävention umzusetzen. Aus dem Wunsch heraus wird sich jedoch nichts ändern. Wir als Diabetes-Fachkräfte müssen uns diese Wertschätzung erkämpfen, in unserem Gesundheitssystem, wo die spezialisierte Facharbeit bei chronisch Kranken an Wertschätzung verliert. Mit Schritten, die wir in unseren Leitlinien bestimmen, aber auch mit Offenheit gegenüber innovativen (digitalen) Therapieformen und einer stärkeren Konzentration auf die Bedürfnisse unserer Patienten können wir es schaffen, die Wertigkeit einer guten Diabetologie im Kontext eines Chronic Care Managements zu zeigen. Das kostet Kraft und sicherlich ist die Bedeutung für unsere Gesellschaft nicht vergleichbar mit dem Adressieren der Klimafrage, aber für uns als Diabetes-Behandler ist diese Frage der Klimawandel in der Diabetologie.



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Article published online:
14 October 2021

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