Nervenheilkunde 2022; 41(01/02): 80
DOI: 10.1055/a-1650-2045
Buchbesprechungen

Wiedergutmachung – Der Kleinkrieg gegen die Opfer

Thomas Müller

Pross, Christian: Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer. Hamburg: CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, 2021. 384 Seiten, Taschenbuch, 3. Auflage, 25,00 Euro, ISBN 9783863931001

Die Wiedergutmachung für die Opfer nationalsozialistischen Unrechts und Verbrechen hat eine ähnlich lange Verschleppung erfahren, wie die Aufarbeitung des Nationalsozialismus an und für sich. Denn der Umgang der frühen Bundesrepublik mit den Opfern ihres Vorgängerstaates ist nicht nur kein Ruhmesblatt, er ist am besten als ein erneutes Unrecht zu bezeichnen. Als Zeugen hierfür mag man die Geschädigten selbst heranziehen, wie sie in der 1. Auflage der Monografie von Pross zu Wort kommen.

Pross, Arzt und Medizinhistoriker, hat mit der 3. Auflage von „Wiedergutmachung…“ (nach 1988/2001) geholfen, diesen Bann des Schweigens zu brechen. Eher selten erfahren medizinhistorische Monografien die wiederholte Auflage, und Pross wichtiger Beitrag ist daher unbestritten: Über die restriktive Anwendung der Gesetze, die Opfern eigentlich helfen sollten, über die wenig vorhandene Bereitschaft von ärztlichem Personal zur Hilfe bei der Begutachtung erlittener persönlicher Schäden, und zu den Zweifeln an der Kausalität dieser Schäden, die in den Nachkriegsdekaden ergiebig gesät worden zu sein scheinen, konnte man bei Pross vieles erfahren. Auch darüber, was es bedeutet haben muss, in der jungen Bundesrepublik das während des Nationalsozialismus erlittene Unrecht attestiert bekommen zu wollen – oder darüber, was dies über eine Kultur aussagen mag, und welche Nachteile dieser durch ihr Nichtumgehen mit der eigenen Schuld entstehen. Herzstück des Bands in 3. Auflage bleiben das Kapitel 3, mit der Erläuterung des Verfahrens selbst sowie das 14 anonymisierte Fallbeispiele enthaltende 4. Kapitel, in dem uns das begangene Unrecht an Opfern, die Widrigkeit der Situation und die Schicksale der Betroffenen, deren Angst vor der Retraumatisierung und das oft ernüchternde Ergebnis langwieriger Versuche der Entschädigung deutlich vor Augen geführt werden. Diese Beiträge von Pross zur Geschichte der bundesrepublikanischen Entwicklung in Bezug auf den Umgang mit Wiedergutmachungsansprüchen sind von bleibendem Wert.

Eine Schwäche der 3. Auflage ist, dass darauf verzichtet wurde, die vielfältige neuere Literatur zum Thema aufzunehmen. Hier seien beispielhaft empfohlen: Goschlers „Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945“ (2005) sowie Frei et al. „Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel“ (2010). In letztgenanntem Werk wurde berichtet, dass sich in den einschlägigen Unterlagen auch das Bild aufrichtiger Bemühung bundesrepublikanischer Beteiligter feststellen lasse, den Geschädigten zu helfen. In einer neuen Sondierung von vergleichbaren Aktenbestanden zu Häftlingen der württembergischen Konzentrationslager Heuberg und Kuhberg bildet sich dieser Eindruck aufrichtiger Hilfsangebote an die ehemaligen Häftlinge allerdings nicht ab (DOZK, Heft 75, Nov. 2021).

Thomas Müller, Ravensburg-Weissenau



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Article published online:
09 February 2022

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