Kinder- und Jugendmedizin 2022; 22(01): 3-4
DOI: 10.1055/a-1664-5825
Editorial

Ein Streifzug durch ausgewählte Themen der Kinder-Onkologie und -Hämatologie

Arndt Borkhardt
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Prof. Dr. med. Arndt Borkhardt

Das vorliegende Heft versucht, aus der großen Fülle der Erkrankungen meines Fachgebietes, den vielen Neuerungen in der letzten Zeit, die heute auch gern „practice changing“ genannt werden, eine repräsentative Auswahl zu treffen. Dabei war es dem Gastschriftleiter wichtig, den oft nur vordergründig so genannten „benignen Erkrankungen“ des Knochenmarks einen gebührenden Stellenwert einzuräumen. Sie sind häufig mit ganz erheblicher Mortalität oder Langzeit-Morbidität verbunden, die nicht selten der von bösartigen Erkrankungen im Kindesalter gleichkommt, sie manchmal sogar deutlich überragt. Hier erleben wir in jüngster Zeit einen geradezu dramatischen Wandel, angefangen mit den erst seit wenigen Monaten in Deutschland stattfindenden flächendeckenden Screeninguntersuchungen auf Sichelzellerkrankung (Beitrag von Dr. Stephan Lobitz, Koblenz) oder der jetzt in einigen Kliniken zu Verfügung stehenden molekularen Therapie unter Zuhilfenahme der neuen Genschere CRISPR/Cas (Artikel Prof. Roland Meisel, Düsseldorf). Die zur Erkrankung führende Mutation und das zugrunde liegende Prinzip der Ko-Evolution mit einer Resistenz gegenüber tödlich verlaufender Malariainfektion kommt in jedem Schulbuch der Biologie vor. Malaria war offenbar vor ca. 10 000 Jahren, als der Mensch sesshaft wurde, ein extrem starker Selektionsfaktor, der Individuen bevorzugte, die verschiedene Mutationen in der ß-Kette ihres Hämoglobingens aufwiesen. Aber erst seit ca. zehn Jahren ist der Mechanismus bekannt, wie dies funktionell zu verstehen ist. Neben komplexen immunmodulatorischen Mechanismen, die die T-Lymphozyten besser befähigen, Plasmodium-Antigene zu erkennen, spielt überraschenderweise die Bildung des eigentlich hoch toxischen Kohlenmonoxids (CO) dabei eine protektive Rolle [1].

Dr. Paraskevi Klothaki und Kolleginnen aus der Klinik für Kinderonkologie am Klinikum Kassel beschreiben in ihrem Beitrag einen Glykolyse-Enzymdefekt, der eine hämolytische Anämie bedingt, die bei milder Ausprägung vermutlich nicht selten übersehen wird. Der Pyruvatkinase-Mangel besticht jedoch durch sein sehr breites klinisches Erscheinungsbild, das neben milden, unentdeckten Formen auch dramatische Verläufe mit lebensbedrohlichen hämolytischen Krisen einschließt. Der sehr edukative Beitrag erinnert den Gastschriftleiter – und dies sei pro domo an dieser Stelle gestattet anzumerken – an ein Krankheitsbild, was er in seiner Assistentenzeit an der Kinderklinik des Universitätsklinikums Gießen kennenlernen durfte. Mit Jochen Kreuder, Reinald Repp und anderen jungen Assistenten betreuten wir damals auf der Station unseres damaligen Chefs, Prof. Fritz Lampert, einen knapp fünfjährigen Jungen mit hämolytischer Anämie, Myopathie und krisenhaften Rhabdomyolysen während fieberhafter Episoden. Das ursächlich dysfunktionale Enzym, die Aldolase A, ist ebenfalls wie die Pyruvatkinase ein zentraler Bestandteil des Glykolyseweges [2].

Ein Paradigmenwechsel hat sich in der Kinderonkologie in Bezug auf unseren Vorstellungen zur genetischen Prädisposition, zur „Erblichkeit“ von Krebserkrankungen im Kindes- und Jugendalter ereignet. Auch wenn Tumoren sehr selten nach den klassischen Mendelschen Regeln von den Eltern auf die Kinder vererbt werden, so geht man heute doch davon aus, dass bei ca. 10 % aller erkrankten Kinder eine mehr oder minder starke genetische Veranlagung feststellbar ist. Der flächendenkende diagnostische Einsatz neuer DNA- und RNA-Sequenziermethoden hat nicht nur die Diagnostikzeiten dramatisch reduziert (eine komplette Analyse aller menschlichen Gene ist heute auch innerhalb von 24 Stunden realisierbar geworden), sondern erlaubt auch die Entwicklung gen- bzw. krankheitsspezifscher Nachsorge- und Überwachungsprogramme. Dr. Triantafyllia Brozou und Dr. Rabea Wagener aus der Düsseldorfer Kinderonkologie geben einen komprimierten Überblick über das rasch expandierende Feld der Tumorprädisposition im Kindes- und Jugendalter.

Histiozytosen umfassen eine Gruppe von Erkrankungen, die wie kaum eine andere die oft unscharfe begriffliche Trennung „maligne versus benigne“ charakterisieren. Ist die Langerhans-Zell-Histiozytose – im Säuglingsalter gelegentlich als Windeldermatitis verkannt – dem Pädiater noch geläufig, so sind die Histiozytosen der Nicht-Langerhans-Gruppe eine komplexe und manchmal recht unübersichtlich erscheinende Gruppe von Erkrankungen. Sie erfordern auch ein sehr breites therapeutisches Armamentarium. Es reicht von „watch & wait“-Strategien bei exzellenter Prognose bis zur frühzeitigen allogenen Stammzelltransplantation. Prof. Classen von der Universitätskinderklinik Rostock ist ein ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet und gibt hierzu einen systematischen, praxistauglichen Überblick.

Neben den angeborenen Störungen der Hämatopoese ist die Gentherapie auch bei den monogenetischen Erkrankungen des Immunsystem breit auf dem Vormarsch. Die bitteren Erfahrungen aus den Anfangsjahren der Gentherapie, bei denen leider zahlreiche – auch tödliche – Leukämieerkrankungen bei den behandelten Kindern auftraten, hat das Arbeitsfeld hinter sich gelassen. Vorsicht ist dennoch unverändert von Nöten. So sind jüngst Berichte aufgetaucht, dass auch die als sehr sicher geltenden, mit einem chimären Antigen-Rezeptor ausgestatteten T-Lymphozyten (sogenannte CAR-T-Zellen), die in vielen Bereichen der Onkologie mittlerweile als zelltherapeutisches Produkt eingesetzt werden, Lymphome auslösen können [3], [4]. PD Dr. Sujal Ghosh aus der Düsseldorfer Klinik weist in seinem Artikel auf die Gefahren, aber auch die beeindruckenden Erfolge und Perspektiven der somatischen Gentherapie bei Immundefekterkrankungen in komprimierter, anschaulicher Form hin.

Ich bedanke mich bei allen Autoren und wünsche der Leserschaft der Zeitschrift Kinder- und Jugendmedizin Vergnügen bei der Lektüre und hilfreiche Anregungen für die eigene Arbeit.

Prof. Dr. med. Arndt Borkhardt

Gastschriftleiter



Publication History

Article published online:
25 February 2022

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  • Literatur

  • 1 Ferreira A, Marguti I, Bechmann I. et al Sickle hemoglobin confers tolerance to Plasmodium infection. Cell 2011; 145 (03) 398-409
  • 2 Kreuder J, Borkardt A, Repp R. et al Brief report: inherited metabolic myopathy and hemolysis due to a mutation in aldolase A. N Engl J Med 1996; 334 (17) 1100-1104
  • 3 Micklethwaite KP, Gowrishankar K, Gloss BS. et al Investigation of product-derived lymphoma following infusion of piggyBac-modified CD19 chimeric antigen receptor T cells. Blood 2021; 138 (16) 1391-1405
  • 4 Bishop DC, Clancy LE, Simms R. et al Development of CAR T-cell lymphoma in 2 of 10 patients effectively treated with piggyBac-modified CD19 CAR T cells. Blood 2021; 138 (16) 1504-1509